Der Roman, der sich an eine Leserschaft ab 10 Jahren wendet, erzählt von der Kindheit der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller in dem weitläufigen Landgut Ivy Green. Die Sechsjährige wird von ihren Eltern sehr geliebt, aber weil sie seit einer schweren Erkrankung in ihrem dritten Lebensjahr weder sehen noch hören kann, ist sie kaum zu erziehen und es ist nicht möglich, ihr etwas beizubringen. Diese Gefangenschaft in Stille und Dunkelheit führen bei dem Kind zu häufigen Wutausbrüchen, Helen zertrümmert immer wieder das Essgeschirr. Keine Mahlzeit vergeht ohne irgendwelche Katastrophen. Die Eltern hoffen auf das Eintreffen der ersehnten Lehrerin. Endlich kommt Miss Anne Sullivan, zwanzig Jahre alt, selbst fast blind und ein ehemaliges Waisenkind. Sie bringt Helen nach vielen Rückschlägen das Lesen von Wörtern durch Berührungen in der Handfläche bei. Den großen Durchbruch erzielt Helen aber erst, als sie an der Gartenpumpe das Wort „Wasser“ wieder erkennt und ab da versteht, dass es für jedes Ding einen Begriff gibt. Auch ohne zu hören und zu sehen, hat Helen sich mit Anne Sullivans Hilfe die Sprache erschlossen.
Die eigentliche Heldin der Geschichte in diesem Buch ist aber die etwa zehnjährige Martha Washington, die das Geschehen aus ihrer Sicht erzählt. Sie ist Helen Kellers Spielgefährtin und Dienerin. Die Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten ist seit 1865 zwar vorbei, aber am Rollenverhalten zwischen Schwarzen und Weißen hat sich auch zwanzig Jahre später nicht viel geändert. Die Weißen sind die Großgrundbesitzer und herrschen über ihre Plantagen, die Schwarzen schuften immer noch ohne Lohn, für ihre nackte Existenz.
„Nachdem Helen Keller das Geheimnis der Wörter entdeckt hatte, wurde sie in der ganzen Welt berühmt. Marthas Spuren verlieren sich dagegen im sprichwörtlichen Dunkeln. Ich hoffe, mit dieser Geschichte bleibt sie nicht mehr nur eine Randnotiz in der größeren Weltgeschichte.“ Das schreibt Dagmar Petrick in ihrem Nachwort (S.263). Damit benennt sie indirekt den Konflikt, der diesem Buch innewohnt: Zum einen sieht sich die Erzählerin in der Pflicht, nah am tatsächlichen Geschehen zu bleiben, zum anderen möchte sie auch der Figur gerecht werden, welche die eigentlich Benachteiligte ist – nicht wegen einer (mehrfachen) Behinderung, sondern aufgrund ihrer Hautfarbe und der damit verbundenen gesellschaftlichen Stellung. Zum Dienen geboren, zur Unterordnung bestimmt, das scheint das Schicksal von Martha Washington zu sein, und dass sie ein wenig das Lesen und Schreiben erlernt, täuscht nicht darüber hinweg, dass ihre Funktion darin liegt, Helen Keller auf ihrem Weg zu unterstützen und nicht darin, sich selbst zu entwickeln und zu profilieren. Ich vermute, die Erzählerin würde sich gerne mehr Möglichkeiten für ihre dunkelhäutige Protagonistin ausdenken, aber die Pflicht, beim roten Faden zu bleiben und die Geschichte von Helen Keller zu erzählen, die weltberühmt wurde, lässt sie nicht los. So können die jungen Leserinnen und Leser mit Spannung bis zum Schluss verfolgen, wie es mit Martha weiterging.
An diesem Buch gefällt mir besonders, wie geschickt die Themen Inklusion und Antirassismus verschränkt werden, wobei aber nicht jede Hoffnung erfüllt werden kann.
- Autor: Dagmar Petrick
- Titel: Martha, Helen und der Weg aus der Dunkelheit
- Verlag: Neukirchener Verlag
- Erschienen: 03/2022
- Einband: gebunden
- Seiten: 269
- ISBN: 9783761568163
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Wertung: 13/15 dpt