Cannes, Mai 2017: „You Were Never Really Here“ gewinnt zwar nicht die Goldene Palme für den besten Film, erfährt jedoch über die Auszeichnungen für das beste Drehbuch und den besten Hauptdarsteller eine angemessene Wertschätzung. Leider sollte es fast ein Jahr dauern, bis der neue Film von Lynne Ramsay in den deutschen Kinos anlief. Als „A Beautiful Day“ wird er so verspätet zum heißen Anwärter auf den Film des deutschen Kinojahres 2018 und muss sich einzig mit der Frage rumschlagen, warum er in Deutschland eine Titeländerung über sich ergehen lassen musste.
Regisseurin Lynne Ramsay hat es schon immer auf schwierige und harsche Stoffe abgesehen, da macht „A Beautiful Day“ definitiv keine Ausnahme. Der Film nimmt den Roman „You Were Never Really Here“ von Jonathan Ames zum Anlass, um Joe (Joaquin Phoenix) zu begleiten und diesen Charakter zu einer Fallstudie in Sachen Psychogramm auszubauen. Kurz aufflackernde Erinnerungsfetzen deuten durch den gesamten Film hinweg an, dass Joe ein Kriegsveteran sein könnte und in seinen Kindheitstagen Opfer von psychologischer wie körperlicher Gewalt wurde. Doch der stämmige und bärtige Mann bleibt ein bruchstückhaftes Mosaik, das sich nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild einer menschlichen Person zusammensetzen lässt.
Ein Kunstgriff, wenn man bedenkt, dass es sich bei Joe um jemanden handelt, der entführte Kinder rettet und dabei auf höchst brutale Weise vorgeht. Jeder andere Thriller hätte einen knallharten, kühlen und intelligenten Helden bei der Arbeit gezeigt, doch Lynne Ramsay interessiert sich für den höchst interessanten Charakter Joe und baut um ihn gewissermaßen einen Anti-Thriller. Joaquin Phoenix ist muskulös, aber auch aufgedunsen, ist eine vernarbte Erscheinung, wirkt durch Bart und Zopf aber auch verwahrlost, in seiner Arbeit agiert er klug und berechnend, wirkt ansonsten aber eher scheu und kindlich. Am wichtigsten aber ist: Joe ist ein gebrochener Mann, was ihn auf perverse Weise für seine „Lebensaufgabe“ qualifiziert. Er ist ein Geist.
Die schottische Regisseurin inszeniert die geisterhafte Erscheinung meisterinnenhaft. Joe ist zwar physisch im Hier und Jetzt präsent, wird wahrgenommen und interagiert mit Menschen, doch er bleibt im Verborgenen, wird (und ist) vergessen und schleicht durch die Straßen ohne jegliche Auswirkung auf das sichtbare Weltgeschehen. Joe verschwindet aus Räumen, hinter Zügen, durch Türen und hinterlässt maximal eine zu vermutende Präsenz im Windzug. Er sucht ausschließlich Verbrecher heim und wird seinerseits von den Geistern seiner Vergangenheit eingeholt, die immer wieder plötzlich in seinen Alltag einzubrechen versuchen und ein soziales wie glückliches Leben verhindern. Einzig zu seiner Mutter (Judith Roberts) pflegt er eine liebevolle Beziehung, doch auch sie ist eine gebrochene, von (geistiger) Krankheit gezeichnete alte Frau.
Trotz der offensichtlichen Parallelen zu „Taxi Driver“ trennt Scorsese und Ramsay in ihrer jeweiligen Herangehensweise Entscheidendes. Travis Bickle und Joe verbindet zwar wiederum, dass sie beide von der Gesellschaft ignorierte Männer sind, die ihre jeweils eigenen Probleme mit dem vorherrschenden Männlichkeitsbild haben, die Regisseurin konzentriert sich jedoch eher auf das Innenleben ihrer Hauptfigur. Dieses bleibt in seiner Übersetzung in Film glücklicher- wie realistischerweise größtenteils verrätselt. „A Beautiful Day“ kann uns die Person Joe zwar näherbringen, doch er muss für den Zuschauenden unverständlich bleiben, weil er sich selbst nicht versteht. Die gezeigte Person ist nicht vollständig und kann nur ein temporär stabil bleiben. Wenn ihr denn noch irgendwas gegeben werden kann, so ist es die Anerkennung als menschliches Wesen.
Demzufolge hätte die Beibehaltung des Originaltitels deutlich mehr Sinn ergeben. „A Beautiful Day“ rekurriert auf das Ende des Films, gibt dem Projekt aber eine zynische Note, die nicht ganz passen mag. „You Were Never Really Here“ fasst besser zusammen, dass Joe zwar etwas in der Gegenwart tut, ihm diese Tätigkeit aber kein Gefühl der Wiedergutmachung oder Heilung verschaffen kann. Es ist ein Kampf um Sinn in einer sinnlosen Welt, doch das kann ihn nicht zum Helden machen, denn Joe tötet bei seinen Rettungsversuchen. Das ist ihm bewusst, doch irgendwas treibt ihn an, Kinder und ihre Unschuld zu bewahren. Doch es ist nur der Kampf eines Gefickten in einer abgefuckten Welt.
Dies wird insbesondere deutlich, als Joe das Kind eines Senators (Alex Manette) aus der Prostitution retten soll. Zwar rettet er die kleine Nina (Ekaterina Samsonov) zunächst aus den Fängen der Pädophilen, zudem ist die Rettungsoperation gefährdet, als ich die Rahmenbedingungen dramatisch gegen Joe wenden und er nicht mehr als Geist operieren kann. So oder so ist Nina aber bereits traumatisiert und hält Joe vor Augen, dass sie wie er fürs Leben gezeichnet ist. Sie beide sind in ihrer Entwicklung gestört und werden von vergangenen Erlebnissen bestimmt. Wie soll dabei ein Konzept von Zukunft entstehen, wenn schon die Gegenwart regelmäßig in sich zusammenbricht? Dem Zuschauenden wird eine Verbindung der beiden über das Erlebnis eines Traumas angedeutet, ob sie sich in der Bewältigung gegenseitig stützen können, lässt Ramsay jedoch mit Tendenz zum Pessimismus offen.
Nach ihrer Babypause kreiert Lynne Ramsay ihren bislang stärksten Film, der vor allem von seiner packenden, kondensierten Inszenierung zehrt. 90 Minuten und keine Szene zu viel, das sieht man im Kino heutzutage selten. Ramsay bebildert ihr selbst entwickeltes Drehbuch mit wunderschönen Einstellungen, innovativ wirkenden Schnitttechniken und mutigen Szenen. Die Regisseurin fällt unpopuläre und deswegen interessante Entscheidungen, was sich letztendlich auszahlt. „A Beautiful Day“ spielt mit den Genreerwartungen, verweigert sich der Erfüllung des angedeuteten Kultpotenzials und legt ein höchstkonsistentes Werk vor, das von seinem besonderer Vibe lebt.
Dieser wird sicher auch von Entscheidungen zum Drehort Cincinnati oder zu kontraintuitiver Logik von gewissen Szenen unterstrichen, ein großes Lob muss aber vor allem an Jonny Greenwood gehen. Das Radiohead-Hexer setzt mit seinem nun mehr siebten Film-Soundtrack ein weiteres Ausrufezeichen. Die Musik ist verstörend und wild, wirkt abgehackt und ohrenbetäubend, ist irgendwie verstimmt. Wummernde, ungerade Beats, ins Mark gehende Streicher und elektronische Störgeräusche heben „A Beautiful Day“ tatsächlich auf ein noch höheres Level, weil sich Greenwood ein weiteres Mal dem Film unterordnet und eine maßgeschneiderte Vertonung produziert. Damit hat mal eben neben „Phantom Thread“ zwei Soundtracks in einem Jahr eingespielt, die beide für den Oscar hätten nominiert werden müssen.
Nicht zuletzt darf aber nicht die Erkenntnis fehle, dass „A Beautiful Day“ ohne Joaquin Phoenix wohl auch ein völlig anderer Film geworden wäre. Er unterstreicht abermals seine Bewerbung zum besten Schauspieler der Gegenwart mit einer fantastischen Performance und lässt Joe zu einer Erscheinung werden, wie sie nur Phoenix verkörpern konnte. Das alles macht Lynne Ramsays neuestes Werk zu einer durchweg erstaunlichen wie herausfordernden Erfahrung, die man nicht mehr missen möchte, vor allem, weil Ramsay trotz der pechschwarz gezeichnet Welt Menschlichkeit durchblicken lässt. Die Frage, ob all das nur durch die Unterstützung der „Amazon Studios“ möglich wurde und was der Einstieg der Streaming-Unternehmen in den Filmmarkt bedeutet, verlangt nach einem ganz eigenen Artikel. Solange aber harsche und unbequeme Meisterwerke wie „A Beautiful Day“ breitere Unterstützung finden, profitiert die Filmwelt ungemein.
Fazit: „A Beautiful Day“ ist ein Meisterwerk, weil Regisseurin Lynne Ramsay konsequent ihren eigenen Weg geht und einen konsistenten Anti-Genrefilm geschaffen hat. Der Thriller um eine Kindsentführung und -prostitution beschäftigt sich vordergründig vor allem mit dem vermeintlichen Helden Joe und zeichnet das Psychogramm eines gebrochenen Mannes in einer abgefuckten Welt. Zwar können sich die Zuschauenden keinen Reim auf Joe machen, doch genau darin liegt die Menschlichkeit, die Ramsay dem Charakter zugesteht. Der Film ist genauso verrätselt, dunkel und mosaikhaft wie die höchstinteressante, komplexe und nicht zu greifende Hauptfigur. Unpopuläre Regieentscheidungen, fantastische Bilder und unkonventionelle Strukturen von Lynne Ramsay, ein herausragender Soundtrack von Jonny Greenwood und ein fantastischer Joaquin Phoenix machen „A Beautiful Day“ (oder besser „You Were Never Really Here“) zu einem Highlight des deutschen Kinojahres 2018 – mindestens.
Cover und Szenebilder © Constantin Film
- Titel: A Beautiful Day
- Originaltitel: You Were Never Really Here
- Produktionsland und -jahr: (z.B.: USA, 2012)
- Genre:
(Anti-)Thriller - Erschienen: 06.09.2018
- Label: Constantin Film
- Spielzeit:
90 Minuten auf 1 DVD
90 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Joaquin Phoenix
Judith Roberts
Ekaterina Samsonov
John Doman
Alex Manette
Dante Pereira-Olson
Alessandro Nivola - Regie: Lynne Ramsay
- Drehbuch: Lynne Ramsay, nach dem Buch von Jonathan Ames
- Kamera: Tom Townsend
- Schnitt: Joe Bini
- Musik: Jonny Greenwood
- Extras:
Interview Joaquin Phoenix (ca. 9 min.), Interview Lynne Ramsay (ca. 8 min.), Trainer in Deutsch und Englisch (je ca. 2 min.)
- Technische Details (DVD)
Video: 2,39:1 in 16:9
Sprachen/Ton: D, GB
Untertitel: D
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2,39:1 in 16:9
Sprachen/Ton: D, GB
Untertitel: D
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 15/15 dpt