Fast jeder dürfte dieses Gefühl kennen: Man betritt einen Raum, den man kurz zuvor verlassen hat, und irgendetwas stimmt nicht. Ein Stuhl scheint verrückt, ein Gegenstand ist nicht dort, wo er sich vorher befand, das Buch ist auf der falschen Seite aufgeblättert oder die CDs sind im Regal vertauscht. Und dies, obwohl mutmaßlich niemand in der Zwischenzeit im Zimmer war. Manchmal ist es auch ein Geräusch, ein Schattenfall oder eine Lichtbrechung, die einen zwar nicht an der Realität zweifeln lassen, aber ein bohrendes Gefühl des Unbehagens auslösen.
“Magic, Magic” handelt von diesem Unbehagen, von seiner Verstärkung durch Schlafmangel, bis sich die Realität schließlich sachte auflöst und nur ein Gefühl der Hilflosigkeit und des latenten Grauens bleibt. Sowohl bei der Betroffenen wie den Menschen, die mit ihr zusammen sind.
Dabei sieht es zu Beginn recht entspannt aus für die junge Amerikanerin Alicia, die mit ihrer Cousine Sarah, deren Freund Augustin und den Bekannten Brink und Barbara zu einem Trip an die südchilenische Küste aufbricht. Das erste Mal außerhalb der USA. Eigentlich Idylle pur, ein kleines Landhaus, weite Landschaft, Pferde, Schafe und das nahe Meer; etwas kühl vielleicht, aber passend für einen erholsamen Kurzurlaub. Doch gleich am Start der Reise beginnt es schiefzulaufen. Sarah muss zurück nach Santiago, angeblich wegen einer wichtigen Klausur, Alicia fährt alleine mit den drei Freunden dem malerischen Ziel entgegen.
Augustin ist zwar charmant und rührend besorgt um die Cousine seiner Freundin, doch der pubertär scherzende und distanzlose Brink ist Alicia suspekt, ebenso die widerborstige und unnahbare Barbara. Umgekehrt ist es ähnlich. Versuche, Alicia in die Gemeinsamkeit einzubeziehen, scheitern kläglich oder werden zu Episoden der Ausgrenzung.
Nichts Großes. Ein Welpe wird adoptiert und wieder ausgesetzt als er nervt, Alicias unter ‘freundschaftlichem’ Druck getroffene Musikauswahl wird mit Häme kommentiert. Nach der Ankunft am ländlichen Ziel mutiert Barbara zur gereizten Herbergsmutter, die Männer kaspern herum, und es dauert, bis Sarah endlich aus Santiago wiederkommt. Doch die Situation ändert sich kaum. Alles verschwimmt, Alicia schläft oder träumt, dass sie nicht schläft, sie nimmt Tabletten, Kräuter von einer Nachbarin, doch ihr somnambuler Zustand verschlimmert sich. Ihre Mitbewohner reagieren zunehmend verstört, je mehr sie Alicia zu helfen versuchen, umso mehr driftet sie davon. Bis zum bitteren Ende sehen wir Alicia beim Zerbrechen zu. Eingefangen von Christopher Doyle und Glenn Kaplan in traumhaft schönen Bildern, ergänzt um einen so spröden wie hypnotischen Soundtrack. Und Störgeräusche, die sich nicht allein in Alicias Kopf hörbar abspielen.
“Magic, Magic” kommt ohne grelle Schocks und blutrote Gewaltexzesse aus, das Grauen ist ein schleichendes, das sich an den Rändern einnistet, dort wo für Alicia die Welt auseinanderbricht. Telefongespräche, obwohl das Handy keinen Empfang hat, deren Inhalt sich aber im späteren Verhalten der potentiellen Gesprächspartnerin bestätigen, Blicke, Gesten, Geschehnisse im ständigen Pendeln zwischen Sein und Schein – “Magic, Magic” bewegt sich in einem schemenhaften Stadium der Ambivalenz und Unsicherheit, verstärkt durch den behutsamen Wandel der Perspektive. Blickt der Zuschauer zunächst mit Alicia auf die seltsam wirkende Umwelt, gerät Alicia schließlich selbst in den Fokus der Wahrnehmung. Das Verhalten der Freunde verändert sich von neckischen Kindereien über Unverständnis und leichten Animositäten zu Erschrecken und Hilflosigkeit. Kaum etwas wird explizit gezeigt, Regisseur und Drehbuchautor Sebastián Silva gewährt dem Zuschauer vielfältige Interpretationsmöglichkeiten.
Unterstützung findet er dabei in einer hervorragenden Darstellerriege, angefangen bei Juno Temple, die die labile Alicia mit nahezu körperlich fühlbarer Intensität spielt. Michael Cera meistert seine unangenehme Rolle als vorgeblicher spätpubertärer Clown mit sadistischer Note, der seine Unsicherheit hinter anzüglichen Witzen zu verbergen sucht, aber gegen Ende echte Besorgnis zeigt. Dass er dies oft im Hintergrund mit nur wenigen Blicken und Zögerlichkeiten fassbar machen kann, ist große Schauspielkunst. Eine echte Überraschung ist Emily Browning, die zeigt, dass sie weit mehr kann als die blondierte Babydoll in unausgegorenen Zack Snyder-Lobotomien zu geben. Ihre Sarah ist die auf den ersten Blick lockere, patente Freundin, die aber nicht verhehlen kann, welcher Schmerz in ihr selbst nagt.
Catalina Sandino Moreno und Augustin Silva (der Bruder des Regisseurs) spielen pointiert in einem stimmigen Ensemble, dessen größte Stärke sich im gesamten Film widerspiegelt: Andeutungen, Pausen und der Verzicht auf große Gesten lassen viel Raum für Doppeldeutigkeiten und Spiegelungen. Innerhalb des eigenen filmischen Kontextes wie für den Zuschauer.
Und wer glaubt, das Ende käme abrupt und als Anti-Klimax daher, der sollte sich “Magic, Magic” noch einmal in Ruhe anschauen. Denn es kündigt sich bereits früh an.
“Magic, Magic” erschien vermutlich zu verstörend und (auf den ersten Blick) unspektakulär um hierzulande eine Kinoauswertung zu erhalten. Was sehr schade ist, denn visuell und soundtechnisch ist das vielschichtige Werk wie geschaffen für die große Leinwand. So bleibt es bei der Veröffentlichung auf DVD und Blu Ray, immerhin in ansprechender Umsetzung.
Die Boni sind knapp bemessen, es finden sich der Trailer in Deutsch und auf Englisch, eine Trailershow mit drei Filmen und ein ‘Making Of’ der besseren Sorte auf der BluRay.
Cover & Szenenfotos © Koch Media
- Titel: Magic Magic
- Originaltitel: Magic Magic
- Produktionsland und -jahr: USA, 2013
- Genre:
Psycho-Thriller, Horror, Drama
- Erschienen: 26.06.2014
- Label: Koch Media
- Spielzeit:
93 Minuten auf DVD
97 Minuten auf Blu-Ray - Darsteller:
Juno Temple
Michael Sera
Emily Browning
uvm.
- Regie: Sebastián Silva
- Drehbuch: Sebastián Silva
- Kamera:
Christopher Doyle
Glenn Kaplan - Musik:
Danny Bensi
Saunder Juriaans
- Extras:
Making Of, Trailer, Trailershow
- Technische Details (DVD)
Video: Widescreen, 2.40:1 (16:9)
Sprachen/Ton: D, GB (DD 5.1), D, GB (DD 5.1, DTS 5.1)
Untertitel: D
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: Widescreen, 2.40:1 (16:9)
Sprachen/Ton: D, GB (DTS-HD 5.1)
Untertitel: D
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktlink
Wertung: 12/15 dpt
Hallo, danke für die gute Filmkritik. Ich habe den Film gestenr das erste Mal gesehen und ich wusste nciht genau, ob ich den Film nun mag oder nicht mag. Jedenfalls faszinierte er mich. Ich versuche die ganze Zeit herauszufinden, welche Doppeldeutigkeiten gemeint sind, die in allen möglichen Kritiken erwähnt, aber nicht erklärt sind. Ich würde mich freuen, wenn man mir, als Anfängerin der Filmanalyse, etwas auf die Sprünge helfen würde 🙂
liebe Grüße
Yarince
Hallo Yarince, ich versuch’s mal, ohne allzuviel zu spoilern, falls jemand mitliest, der den Film noch nicht gesehen hat. Trotzdem vielleicht lieber weglesen… Zum Doppeldeutigen: Die Begebnisse in”Magic Magic” können (im Filmuniversum) tasächlich passiert sein, oder sind sie vielleicht lediglich in der Fieberphantasie der Hauptfigurr passiert? Es gibt zahlreiche Irritationen, Einstellungen, die beide Deutungen zulassen. Oder vielleicht doch nur eine? Schau dir den Film noch einmal an und achte auf die Kleinigkeiten, die die filmische Realität in Frage stellen. Das bezieht sich nicht nur auf die Bilder, sondern auch auf die Tonspur. Da passiert etwas (im Hintergrund) Verstörendes relativ früh, das am Ende dann Sinn ergibt. Derartige Beugungehn von Realität findest du, mal mehr mal weniger stark ausgeprägt, im Verlauf des gesamten Films. Achte mal drauf.