Der Vinyl-Terrorist #1: Märsche für Ärsche

vt2Guten Tag, verehrte Freunde des vinylistischen Terrors und herzlich willkommen zu meiner ersten Platteninspektion. Heute präsentiere ich Ihnen ein besonderes Schmankerl, das laut Genfer Konventionen gegen humanitäres Völkerrecht verstößt.

Wie Panzerketten durchs Schlachtfeld, pflügt sich die Plattennadel durch die Rillen von John Philip Sousas “On Parade”, und ich fühle mich wie der heimgekehrte und ehrenüberschüttete Kriegsheld, der in einem Stretchlimousinen-Cabrio durch die Häuserschluchten einer amerikanischen Metropole chauffiert wird (im Schritttempo, damit ich problemlos die mir durch die Nation dargereichten Blumensträuße entgegen nehmen kann).

In Wahrheit stehe ich natürlich bloß salutierend am Fenster meiner Kasseler Nordstadt-Wohnung und verwirre meine multikulturelle Nachbarschaft mit “Stars And Stripes Forever” – eine Art amerikanische Version des Helenenmarsches. Mit diesem quälte uns übrigens 1978 Opa Hoppenstedt mit den Worten “Ich will meine Platte spielen!” Doch auch im anglophonen Bereich greift die Elite der Humorschaffenden auf die Marschmusik zurück. Sousas “Liberty Bell March” hat es immerhin zum Titelsong der allseits erheiternden Fernsehsendung “Monty Python’s Flying Circus” geschafft.

Marschmusik hat also durchaus im internationalen Vergleich humoristischen Bestand. Wieso keiner meiner Nachbarn gute Laune hat, wenn ich Sousa spiele, ist mir rätselhaft.

MUSS ICH ERST LAUTER DREHEN???

k02Als das Baby der Nachbarn anfängt zu schreien, schäme ich mich ein wenig ob meiner klanglichen Grausamkeit und stelle leiser. Ich vergaß, dass Säuglinge humorresistente Wesen sind. Deshalb habe ich Platten und keine Kinder.

Doch zurück zur Platte. Diese hat nämlich neben überbordendem Hurra-Patriotismus auch durchaus besinnliche und ruhige Momente zu bieten, wie gleich das erste Stück “Fall Tenderly, Roses” zeigt. Das romantische Klavierstück holt einen nach einem stressigen Arbeitstag in eine butterweiche Aloe-Vera-Stimmung, die der uneheliche Klon von Franz Schubert und Scott Joplin nicht hätte schöner komponieren können, bevor einem nach anderthalb Minuten übergangslos und ohne Vorwarnung “Stars And Stripes Forever” gnadenlos die Fresse poliert. Streng nach der dramaturgischen Regel “…and now for something completely different!” Ich springe aus meiner Sauna-Sitzhaltung hoch, um meiner neuen Zwangsneurose – dem Salutieren – zu frönen.

Außer “Stars And Stripes Forever” hat die Platte aber natürlich noch massenweise andere schöne Märsche zu bieten. Warum ich diese nicht erwähne? Der Marschliebhaber hat diese Info nicht nötig, ihm sind die Werke des Marsch-Apostels Sousa hinlänglich bekannt. Für alle anderen klingt eh alles gleich.

Aber spätestens seit der General-Bergfrühling-Werbung* gleitet die früher noch stolze Saluthand nur noch über die Schmutzflecken der eigenen Fenster, anstatt die ganze Nation zu grüßen (oder die Fenster des Reichstages zu putzen). Und somit wird die Marschmusik zum Sinnbild des gesellschaftlichen Verfalls. Deshalb fordere ich: Hands across the sea (side two, track 4). Greift nach den Sternen! Oder – um den Ausspruch zu zitieren, der Sousa zu dieser Komposition inspiriert hat: “A sudden thought strikes me; let us swear eternal friendship”.

Hat mich 1 € gekostet.

National Geographic Society, 1978, stereo, 33 upm.

Es spielt die Starburst Concert Band sowie das New World Chamber Orchestra unter der Leitung von William Pursell.

*Na, haben Sie den Song erkannt, der da im Hintergrund läuft?

Foto © privat
Cover: selbst abgemalt

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