Adolf Muschg – Im Erlebensfall (Buch)


Adolf Muschg - Im Erlebensfall (Cover © C. H. Beck Verlag)

Mit der Floskel “homme de lettres” bedacht zu werden, darauf melden so einige Menschen Anspruch an, die mal zwei oder gar drei verschachtelte Sätze unfallfrei hintereinander formuliert haben. Und auch die Literaturkritik ebenso wie “Jurys” sind schnell dabei, diese eigentlich als solitär-seltene Auszeichnung gedachte Ehrung inflationär zu verteilen. Einer, der sie wirklich verdient hat, wahrscheinlich auch, weil er keinen großartigen Wert mehr darauf legt, ist der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg. Am 13.Mai 2014 feierte er seinen achtzigsten Geburtstag und erweist sich immer noch als ebenso agiler wie hoch-engagierter Autor.

Muschg liest das Grimm’sche Wörterbuch wie ein Werk der Dichtkunst und nicht anders als die Märchen der Gebrüder Grimm. Dieses nerdige Bekenntnis, zu dem er sich in seinem Essay “Alchemie der Wörter”, der in der aktuellen Essaysammlung “Im Erlebensfall” abgedruckt ist, hinreißen lässt, gibt die Richtung und den Anspruch des Autors an sich und seine Leser vor. Weder in seinen Essays noch in seinen erzählenden Werken lässt sich einfach so mal reinlesen.  Nein, hier ringt ein Autor immer um das eine, das perfekte Wort, das im besten Falle eine ganze Reihe an individuellen Subtexten und Konnotationen in sich tragen und transportieren kann. Wer schon mal versucht haben sollte, einen Muschg-Roman so zu lesen wie einen von beispielsweise Günter Grass, Michael Köhlmeier, Dieter Wellershoff oder Uwe Timm, der wird stranden – und das gnadenlos! Alle genannten Autoren sind ganz sicher Meister ihres Faches und ihrer Genres, doch sie geben dem Leser Seiten der Ruhe und der Zerstreuung sowie die Möglichkeit, nach dreißig verschlafenen Seiten bedenkenlos wieder in den Roman zurückzufinden. Diese Chance hat der Muschg-Leser kaum! Selbst die eher zugänglichen Romane “Albissers Grund”, oder “Sutters Glück”, die für viele Germanisten der Einstieg in die Welt dieses faszinierenden Schweizer Autors darstellen, sind durchkonstruierte Sprachkunstwerke, die ihre Spannung auch und gerade durch die wohltemperierten Formulierungen gewinnen. Ein Artikel aus dem Merkur mag im Vergleich hierzu als trotzig hingerotzter Besinnungsaufsatz erscheinen.

Nun gut, der Rezensent gibt zu, hier ein wenig übertrieben zu haben – doch die Grundaussage mag Bestand haben. Nicht ganz zu Unrecht gehört Muschg zu den Autoren, die die sogenannte Suhrkamp-Kultur und -Literatur geprägt haben – auch weil er ein akademischer, ein Autor mit einer ausgeprägten Affinität für Literaturtheorien, insbesondere der literarischen Psychoanalyse, ist. Dies hat er nicht zuletzt in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen unterstrichen und dies lässt sich auch sehr genau an seinen Romanen analysieren – eine dankbare Fleißaufgabe und Fingerübung für die universitäre Einführung in die Literaturtheorie.

Doch man würde dem großartigen Adolf Muschg Unrecht tun, würde man ihn allein auf seine intellektuellen Fähigkeiten und seine hoch-assoziative Sprache beschränken. Nein, dieser Autor kann auch Emotion – und das hebt ihn dann doch ganz gewaltig aus dem Meer derjenigen Autoren heraus, die oft nur über das eine oder das andere verfügen, oder im Rahmen fetziger Literaturkurse gelernt haben, so zu schreiben wie “die Amerikaner”. Seine Romane haben Seele, sie atmen und sie springen die Leser nachhaltig an, die sich auf diese Art von Literatur, die im besten Sinne esoterisch und originell ist, einlassen wollen. Auch sein aktueller Essayband heißt nicht zu Unrecht “Im Erlebensfall”. Dieser eher spröde Terminus, der es in der Versicherungsbranche zu einiger Berühmtheit gebracht hat, zeigt die feine Ironie und den assoziativen Umgang Adolf Muschgs mit Wörtern. Es bleibt die Frage, was wir als Leser diesem Autor als Erlebensfall-Leistung angedeihen lassen? Muschg ist ganz sicher kein Autor des Elfenbeinturms – er kennt sich zwar ziemlich gut aus, in diesem Elfenbeinturm, und weiß ganz sicher auch über die verstecktesten Geheimgänge Bescheid, doch er steht mitten im Leben und der Politik! Und so findet sich in dieser Kompilation verschiedener “Versuche und Reden” aus den Jahren 2002 bis 2013 eine beachtliche Themenvielfalt wieder. Von Europa, den Befindlichkeiten seiner Schweizer Eidgenossen und seinen Ausführungen zur sogenannten Leitkultur ist hier ebenso die Rede wie von dem bereits erwähnten Grimm’schen Wörterbuch oder dem Toleranz-Begriff aus Sicht der Aufklärunng. Als intellektueller und dabei höchst anspielungsreicher Parforceritt erweist sich Muschgs Betrachtung des Gemäldes “Die Spinnerinnen” von Velázquez.

Nun, die Spinnerei und das Weben als Ausgang, als Grundmotiv des Schreibens zu interpretieren ist nicht neu, doch der Faden, mit dem Muschg den Leser durch seine analytisch-kulturwissenschaftlichen Textur führt, ist nicht nur rot, sondern zeigt auch, dass es oft so viel langweiliger ist, wenn rote Fäden rettungsgleich aus etwas herausführen und Klarheit schaffen oder eine Lösung bieten wollen. Im Gegenteil: Dieser rote Faden führt mitten hinein in die Poetik des Adolf Muschg, in der man durchaus auch mal verlieren kann. So klug möchte der Rezensent auch mal werden! Nun, er hat wohl noch vierzig Jahre vor sich, bis er das Alter Muschgs erreicht, doch was der Autor hier an assoziativer Kraft aus einem reichen literarischen und mythischen Fundus beschwört, das ist einfach eine der höchsten intellektuellen Vergnügungen, denen der Rezensent beiwohnen durfte. Wie mag man dieses Erlebnis vergleichen? Das ist die hohe Kunst der Evokation kulturwissenschaftlichen Wissens als durchchoreografierte Ballett- oder Eiskunstlaufdarbietung. Das ist so präzise, so genau, so gnadenlos elegant und dabei so lebendig wie die instrumentale Leistung eines Gavin Harrison am Schlagzeug. Man wird es selbst nie im Leben rekonstruieren oder selbst leisten können – aber man kann es in leiser adorabler Haltung würdigen. Nun mag Adolf Muschg die Leistungen Gavin Harrisons nicht kennen und mit diesem Vergleich kaum etwas anfangen können oder wollen, doch das Schicksal, das sich Leser die literarischen Werke zu eigen machen, dass sie je eigene Resonanzen hervorrufen, das ist wohl Bürde, die jeder Autor zu tragen hat, und zugleich Ausweis einer lebendigen Literatur, die Menschen auch auf einer emotionalen Ebene erreichen kann.

In diesem Sinne sollte Adolf Muschg trotz seiner 80 Jahre, nicht als Klassiker, sondern als Zeitgenosse verstanden, missverstanden, kritisiert, zum Vorbild genommen, als Inspirationsquelle genutzt und vor allem immer wieder neu gelesen werden!

Cover © C.H. Beck

Wertung: 14/15 dpt


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