Spielte der Erste Weltkrieg bis zum diesjährigen Jubeljahr in Deutschland vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges kaum eine Rolle, kommt man derzeit nicht um die medialen Aufbereitungsschlachten der Zeit zwischen 1914 und 1918 herum. Seltsamerweise vermeint man in vielen Berichten, Reportagen und historischen Betrachtungen tatsächlich so etwas wie einen Jubelcharakter zu erahnen. Tenor: Das war noch ein richtiger Krieg, Mann gegen Mann … bis das Giftgas bei Verdun kam. Nun, da dieses Ereignis ein Saeculum lang her ist, wird auch der Literaturbetrieb nicht nur mit Sachbüchern, sondern auch mit historischen Romanen zu dieser Epoche überschwemmt. Und in diesen Zusammenhang ist auch Christoph Poschenrieders Roman “Das Sandkorn” angesiedelt. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Romanen ist dies ein Buch der Randthemen, der Randorte, der Randwissenschaften – und trifft dennoch mitten ins Schwarze!
Es ist der Süden Italiens, den der Münchner Autor Christoph Poschenrieder als Kulisse seines Romans auserkoren hat. Genauer gesagt: Apulien, dieses immer ein wenig unterschätzte Kleinod Italiens mit seiner malerischen Halbinsel Salento. Dort begegnen wir dem Berliner Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn, der den Vorkriegswirren in Preußen und seinem leicht verkorksten Privatleben vorsichtshalber Richtung Rom entflohen ist. Doch anstatt sich dort, wie erhofft, im Deutschen Archäologischen Institut in aller Ruhe mit der Klassifizierung alter Dokumente zu beschäftigen, wird er vom Institutsleiter nach Apulien geschickt, wo Tolmeyn Spuren und Überreste der Bauten des Stauferkönigs Friedrich dem Zweiten entdecken, kartographieren und dokumentieren soll – und das auch noch gemeinsam mit einem Kollegen aus der Schweiz! Das tatsächliche Interesse Preußens, speziell von Wilhelm dem Zweiten, an den historischen Belegen in Apulien ist in ihren Grundzügen ebenso belegt, wie die von Poschenrieder geschilderte Suche Tomeyns und Beats, die in den Kunsthistorikern Arthur Haseloff und Martin Wackernagel ihre historisch verbürgten Vorbilder haben.
An diesem Punkt beginnt Jacob Tolmeyns Leben, das zuvor schon nicht wirklich auf zwei festen Beinen stand, langsam aber sicher zu zerfasern, immer unsicher werden die Schritte, die er macht. Seine versteckte Homosexualität, die immer deutlicher zutage tretende Schwärmerei für seinen Kollegen Beat – dieser Name ist eigentlich eine Frechheit im Kontext Poschenrieders Einfallsreichtums – und ein dramatischer Vorfall im Rahmen eines Fotokurses, den er im Auftrag seines Instituts in Berlin besuchen muss, lassen den Protagonisten immer verzweifelter werden. Halt findet er in der Analyse von Sandkörnchen, die er in den verschiedenen Regionen Apuliens aufsammelt und untersucht. Lassen sich Farbe, Zusammensetzung und Porosität einem bestimmten Terroir zuordnen? Sind diese kleinen Sandkörner Ausweis ihrer Region? Er versucht dieses wissenschaftliche Projekt seinem Institutsleiter und Beat schmackhaft zu machen, doch er erntet nur Unverständnis. Dass und vor allem auch wie ihn seine Erkenntnisse einen seelischen Todesstoß versetzen und dass diese Sandkörner den Berliner Kommissar Franz von Treptow auf Tolmeyn ansetzen, ist ein brillanter Einfall Poschenrieders, der dem Roman mit diesem Element eine thrillereske Wendung gibt.
Die große Kunst Poschenrieders, dem mit seinem literarischen Erstling “Die Welt ist im Kopf” ein überaus vergnüglich-leichter und dennoch ungemein kluger Roman über Arthur Schopenhauer gelungen ist, besteht sowohl in den gewählten Topoi, als auch in der faszinierenden Komposition dieses Romans, der nicht nur aus zahlreichen spannungserzeugenden Perspektivwechsel besteht, sondern auch durch eine geniale Anordnung der Episoden glänzen kann. Diese verfügen samt und sonders über einen an sich harmlosen Charakter, doch derart angeordnet und konstruiert, ergibt sich die Analogie zu den gesammelten Sandkörnern Tolmeyns. Das Stichwort Treibsand fällt im Roman des Öfteren – und es übt, trotz seiner Offensichtlichkeit, nicht nur auf Tolmeyn, sondern auch auf den Leser eine immer bedrohlichere Wirkung aus. Die distinktive Oberflächenstruktur der einzelnen Sandkörner, die eigentlich für einen stabilen Halt sorgt, verschwimmt zusehends – ebenso wie das Selbstkonzept Tolmeyns: Aus dem haltgebenden Sand wird eine tödliche Falle. Das alles entwickelt Poschenrieder so subtil, dass, wie schon anfangs angedeutet, die Namenswahl für den umworbenen Schweizer Kollegen Beat schon ziemliche Spuren des Holzhammers in sich trägt.
Aber das soll auch der einzige Wermutstropfen dieses rundum gelungenen Romans sein, der ein anderes, ein spannendes Licht auf die Epoche des Ersten Weltkriegs wirft. Dieser Roman fährt eben nicht auf der lauten Schiene mit dem naiven Enthusiasmus kriegsbegeisterter Deutscher, sondern entwirft und entfaltet ein faszinierendes Kaleidoskop parallel stattfindender Ereignisse und Diskurse. Dass sich während der Lektüre dieses Romans ausdrucksstarke Bilder und Szenen im Kopf entwickeln, mag der Tatsache geschuldet sein, dass Poschenrieder nicht nur als Autor, sondern auch als Dokumentarfilmer arbeitet und ganz genau weiß, wie man Atmosphäre schafft und mit ihr Spannung aufbaut. Nicht allein das Erkenntnisinteresse des preußischen Kaisers an den Wirkungsorten des alten Stauferkaisers in Apulien, sondern auch die gesellschaftlichen Debatten um die Anerkennung homosexueller Partnerschaften, die Entwicklung der Photographie und den daraus entwickelten kunstästhetischen und philosophischen Debatten zeigen, dass die Zeit vor Ausbruch und während des Ersten Weltkrieges alles andere als monothematisch besetzt war. Hier gilt es, noch einiges und durchaus zeitlos Spannendes und bis heute Nachwirkendes zu entdecken. Die Basis für diese Wieder-Entdeckungen liefert Christoph Poschenrieders Roman “Das Sandkorn”!
Cover © Diogenes Verlag
- Autor: Christoph Poschenrieder
- Titel: Das Sandkorn
- Verlag: Diogenes Verlag
- Erschienen: 02/2014
- Einband: gebunden
- Seiten: 416
- ISBN: 978-3-257-06886-3
- Sonstige Informationen:
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“Rettet den Süden Italiens”
Wertung: 12/15 dpt