Das Leben des Motorradstuntmans Luke (Ryan Gosling) könnte zwiegespaltener kaum sein – obwohl er, gemeinsam mit seinen Kollegen, auf Jahrmärkten mit seiner Maschine stets eine der beliebtesten Attraktionen darstellt, scheint ihm sein Job langsam aber sicher aus dem Hals herauszuhängen. Doch er, Einzelgänger und kein Freund ausgedehnter Kommunikation, zieht sein Ding durch – Kippe in den Mund, Metallica-Shirt und Motorradjacke übergestreift und in atemberaubender Geschwindigkeit mit zwei anderen Stuntmen durch die Todeskugel, ein metallgewordenes Wespennest, gerast – immerhin bringt es ein paar Dollar ein. Und ein paar Dollar sind letztendlich besser
als gar kein Geld.
Als er mit den anderen Schaustellern in die New Yorker Kleinstadt Schenectady weiterzieht und dort seine Künste zeigt, begegnet er Romina (Eva Mendes), einer Exfreundin, wieder, die ihn gerne wieder sehen wollte – unter anderem auch deshalb, um ihm zu offenbaren, dass sie ein Kind von ihm großzieht. Dies legt in Luke einen Schalter um, denn er beschließt tief berührt, seinen Jahrmarkt-Job hinzuschmeißen, sich ab sofort um seinen Sohn zu kümmern und für ihn zu sorgen. Ihm wird klar, dass dies nicht einfach sein wird, denn sein bisheriger Arbeitgeber zeigt sich wenig kooperativ, was ihn in Geldnöte bringt. Romina möchte zudem zu Lukes Verwirrung und Unverständnis nicht, dass er in ihr Leben und in das ihres gemeinsamen Kindes eindringt, zumal sie mit einem neuen Mann, Kofi, zusammen lebt.
Luke möchte hingegen doch nur ein liebevoller Vater für das Kind sein, von dem er zuvor nichts wusste, und so versucht er nun, sich durchzusetzen und begegnet Romina und dem Kleinen hierbei mit größtmöglichem Respekt – nicht allerdings gegenüber Kofi. Der Zweiradcrack geht hartnäckig und frustriert auf Jobsuche und trifft auf den Werkstattbesitzer Robin, der ihm ein paar Kleinarbeiten anbietet, allerdings auch recht mittellos ist und ihm nicht genügend Arbeit für den Selbsterhalt kann. Als Luke Robin seine miese Lage offenbart und Robin Luke daraufhin seine kriminelle Vergangenheit offenbart – er hat unbemerkt einige Banken ausgeraubt -, ist Letzterer skeptisch und ist bereits kurz vor dem Aufbrechen, bis sich ein weiterer Schalter in ihm umlegt. Er wähnt sich in einer ausweglosen Situation, und so begehen die beiden perfekt koordiniert Banküberfälle. Luke möchte von seinem Teil der Beute Romina und ihr gemeinsames einjähriges Kind wenigstens finanziell unterstützen, was weitere Komplikationen mit sich führt. Eines Tages tritt der Cop Avery Cross (Bradley Cooper), ebenfalls Vater eines Sohnes, auf den Plan und stellt Luke nach einer waghalsigen, actionreichen Flucht. Fortan nehmen die Schicksale ihren Lauf, und zwar in gewaltigen Dimensionen.
Und hiermit wäre eigentlich beinahe schon zu viel verraten, denn “The Place Beyond The Pines” dürfte wohl als einer der derzeit unvorhersehbarsten Filme gelten: Man wird fast die kompletten 135 Minuten immer wieder auf die falsche Fährte gelockt oder im Ungewissen gelassen, und das einzig Gewisse ist, dass es sehr wahrscheinlich doch anders kommt als man selbst denkt – und das, obwohl die Verstrickungen der Zufälle und Nichtzufälle in diesen drei, eigentlich dreieinhalb Erzählsträngen, letzten Endes stets logisch erscheinen.
»If you ride like lightning, you’re gonna crash like thunder«
Die sich miteinander abwechselnden Zustände der Ruhe und der Turbulenz zu Beginn des Films – heftige Action auf dem Zweirad, Stille in den nachdenklichen Szenen – kann man in verschiedenen Ebenen auf den gesamten Film übertragen, wodurch eine ganz eigene Dynamik entsteht, die mitreißt. Die emotionalen Achterbahnen, welche die Protagonisten durchfahren und auf die auch der Zuschauer geschickt und in einem imaginären Waggon festgeschnallt wird, wühlen immens auf, und nicht selten erwischt man sich dabei, wie man beim Zuschauen die Luft anhält, weil der gesamte Fokus des Bewusstseins auf den Bildschirm gerichtet ist und man jedes einzelne Atmosphärenelement in sich aufsaugen möchte. “The Place Beyond The Pines” ist ein Film über das Vatersein. Über Gewissensfragen. Über Schuld und Sühne. Über Liebe zu den für sich wichtigsten Menschen. Oft stellt er auch in Frage, wie falsch das Falsch und wie richtig das Richtig ist.
Die Auswahl der Darsteller hätte bei alledem kaum besser sein können – mit Ryan Gosling (“Drive”, “Blue Valentine”) und Bradley Cooper (“Silver Linings”, “Ohne Limit”, “Hangover”-Reihe) hat man zwei der Hauptfiguren perfekt besetzt , und auch die Coprotagonisten und die Darsteller aus der zweiten Reihe sind stellenweise vom Feinsten. So hat man unter anderem Ray Liotta, Eva Mendes, Rose Byrne und den gerade in Serien sehr gerne eingesetzten Mahershalalhashbaz Ali für weitere Rollen verpflichten können – selbst bei den Nebendarstellern und Statisten hat man nicht gespart.
In visueller Hinsicht hat man in diesem Streifen mit so einigen Raffinessen gearbeitet, was einem erst im Laufe der Zeit bewusst wird – so wurde beispielsweise bei den Motorrad-Actionszenen bewusst noch mehr Geschwindigkeit erzeugt, indem man den Fokus beispielsweise auf den Gegenverkehr richtet, obwohl der Feuerstuhl im Vordergrund zu sehen ist – auch bekommt man als Zuschauer das Gefühl, dass in diesen Szenen weniger sogenannte frames per second eingesetzt wurden, sodass die sich Bilder durch die messerscharf abgehackten Bildwechsel noch schneller zu bewegen scheinen. In den emotional unruhigen Situationen wurde filmübergreifend hier und da sogar von einer weichen Standkameraführung zu einer handgehaltenen Kamera gewechselt, was die innere Unstetigkeit der gerade gezeigten Charaktere sehr effektiv auf den Zuschauer überträgt.
Für den Filmsoundtrack konnte Ausnahmemusiker Mike Patton an Land gezogen werden, der auf zahlreichen musikalischen Hochzeiten tanzte und tanzt: Faith No More, Mr. Bungle, Fantômas und Peeping Tom sind da noch die bekanntesten – ferner weiß der gute Mann durch unzählige Kooperationen mit anderen Musikern und zahlreiche, extrem diverse Soloprojekte zu begeistern, wobei er insgesamt ein musikalisches Spektrum abdeckt, dessen Genres aufzuzählen mehrere Seiten füllen würde – von unfassbar schönen und harmonischen Kompositionen über knackige Crossover-Sounds bis hin zu experimentellen Ausflügen und reinem Dadaismus und Krach lässt der US-amerikanische Musiker nichts unversucht. Für “The Place Beyond The Pines” hat er sich auf atmosphärische und sehr filmnahe Sounds spezialisiert, die die Stimmungen des Films, wenn auch oftmals sehr subtil, gekonnt akzentuieren.
Somit wurde bei “Place Beyond The Pines” in ausnahmslos jeder Disziplin eine enorm starke Leistung erzielt – könnte man das vergossene Herzblut optisch darstellen, mit dem gearbeitet wurde, so wäre eine komplette LKW-Ladung randvoller Fässer wohl äußerst passend, denn Regisseur und Drehbuch-Mitautor Derek Cianfrance hat hier gemeinsam mit dem Filmstab eine überwältigende, bis in die Knochen durchdringende, mehrschichtige Story erschaffen und die einzelnen Puzzleteile zu einem beeindruckenden Monstrum der Emotionen zusammengefügt – während die neunzig Minuten mancher Filme endlos lang erscheinen, hat man hier zudem das Gefühl, dass vorliegender Film gut und gerne auch drei Stunden lang hätte sein dürfen, ohne dass sich auch nur ansatzweise Ungeduld beim Zuschauer breit machen würde.
Einzig und allein die Auswahl der Synchronsprecher hätte etwas geschickter sein können, denn es ist schon etwas verwirrend, wenn man zum Beispiel die in den letzten Jahren ohnehin schon extrem häufig zu hörende Stimme von Tobias Kluckert in einem anderen Film Ryan Gosling, hier aber Bradley Cooper in den Mund legt. Auch bei dem ein oder anderen Nebendarsteller, besonders bei Byrne, Ali und Mendes, sollten sich die deutschen Synchronstudios endlich für feste Stimmen entscheiden. Gerade für akustisch sensiblere Zeitgenossen ist der ständige Wechsel der Stimmen doch ein nicht zu unterschätzender Ablenkungsfaktor.
Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem Epos um eine der stärksten audiovisuellen Veröffentlichungen dieses Jahres – und aus dem Blickwinkel des diese Zeilen verfassenden Redakteurs um die mit Abstand stärkste.
Cover & Szenenfotos © Arthaus
- Titel: The Place Beyond The Pines
- Originaltitel: The Place Beyond The Pines
- Produktionsland und -jahr: USA, 2012
- Genre:
Drama, Thriller, Action
- Erschienen: 07.11.2013
- Label: Arthaus
- Spielzeit:
135 Minuten auf 1 DVD
140 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Ryan Gosling
Bradley Cooper
Eva Mendes
Rose Byrne
Ray Liotta
Emory Cohen
Dane DeHaan
Bruce Greenwood
Ben Mendelsohn
Mahershalalhashbaz Ali
Robert Clohessy
Harris Yulin
Olga Merediz - Regie:
Derek Cianfrance - Drehbuch:
Derek Cianfrance
Ben Coccio
Darius Marder - Produktion:
Lynette Howell
Sidney Kimmel
Alex Orlovsky
Jamie Patricof - Musik: Mike Patton
- Kamera: Sean Bobbitt
- Schnitt:
Jim Helton
Ron Patane - Extras:
Featurette: “Going to the Place beyond the Pines” (ca. 4 Minuten)
Geschnittene Szenen (ca. 10 Minuten)
Interview mit Regisseur Derek Cianfrance (ca. 10 minuten)
Making of (ca. 10 Minuten)
Trailer in Deutsch und Englisch (je ca. 2 Minuten)
Wendecover - Technische Details (DVD)
Bild: 2,40:1 (anamorph)
Sprachen/Ton: Deutsch (Stereo DD, 5.1 DD), Englisch (5.1 DD)
Untertitel: Deutsch
- Technische Details (Blu-Ray)
Bild: 2,40:1 1080/24p FULL HD
Sprachen/Ton: Deutsch, Englisch (5.1 DTS-HD MA)
Untertitel: Deutsch
- FSK: 12
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 14/15 dpt