“Mondkälber” zeigt Realität im Zerrspiegel der Literatur
Bei der Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie lernt der namenlos bleibende Ich-Erzähler Irina und Jevgenij kennen. Kurz darauf zieht er ins Haus der neu gewonnenen Freunde ein. Irina ist Künstlerin, die Skulpturen entwirft und als Schauspielerin auftritt. Jevgenij wird als Revolutionär bezeichnet und als politischer Aktivist. Obwohl das Leben im Haus der Freunde alptraumhafte Züge entwickelt, gelingt es dem Erzähler nicht, sich ihnen zu entziehen. Vor allem Irina übt einen geheimnisvollen Einfluss auf ihn aus. Ein verwirrendes Spiel mit der Wahrnehmung des Ich-Erzählers beginnt, durch dessen Perspektive alle Geschehnisse zunehmend surrealer erscheinen.
Die einzelnen Kapitel reihen sich wie Miniaturen aneinander. Die Realität hinter den Bildern lässt sich nur mühsam entschlüsseln. Es ist u.a. von gesellschaftlichen Umbrüchen die Rede, von politischen Unruhen und einem ausbrechenden Krieg.
Regelmäßig mischt sich eine zusätzliche Stimme ein. Ein Doktor Weintraub kommentiert den Bericht des Erzählers, fügt kleine Details hinzu und untergräbt wiederholt dessen Glaubwürdigkeit. Seine Ergänzungen wirken wie kleine Korrektive, die die Leser:innen bei der Wahrheitsfindung zu unterschützen scheinen.
Die Lektüre ist herausfordernd. Simon spielt mit unterschiedlichen Realitätsebenen. Symbolisch für diese doppelte Perspektive ist das Auftauchen eines zweiten Mondes, der das Leben aller beeinflusst.
Sie hatte einen zweiten Mond am Firmament entdeckt und wir starrten das Gebilde an, das unseren zu spiegeln schien. Als liefe ein Schiff aus, hoch über dem Horizon, so starrten wir. Jevgenij hielt den zweiten Mond für eine Illusion, doch Irina war überzeugt, dass es sich um einen echten Mond handelte.
Immer wieder konfrontiert die Autorin die Leser:innen mit der Frage, ob es sich um Projektion oder Realität handelt und stellt ihren eigenen Text in dieses Spannungsfeld.
Wir sehen, was wir erwarten, weil wir bereits etwas gesehen haben. Der Verstand kann nur entscheiden, genauer hinzusehen, wenn unsere Erwartungshaltung nicht zu ausgeprägt ist. Anmerkung: Dr. Weintraub]
Simons poetisch stark verdichtete Sprache bildet einen zusätzlichen Resonanzraum zur inhaltlichen Komplexität des Textes. Die Themenvielfalt wirkt fast uferlos. Simon nimmt Bezug auf Kunst und Presse und deren Verhältnis zur Realität, sie beschreibt das Ausgeliefertsein des Einzelnen gegenüber politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, sie thematisiert persönliche Verluste.
Sie nutzt die Metaphorik phantastischer Naturbeschreibungen, um das Echo der Außenwelt auf die Innenwelt ihrer Protagonisten sichtbar zu machen.
Ihre Sprache ist zuweilen brutal, die entworfenen Bilder sind oft unerträglich grausam und provozierend ekelerregend, dann wieder zart und magisch-verspielt. Simon nutzt die gesamte Klaviatur ihres reichen Wortschatzes.
Der Roman „Mondkälber“ ist eine herausfordende Lektüre, die ihre Leser:innen mit unterschiedlichen Realitätsebenen konfrontiert. Ein Text, mit dem nur Leser:innen glücklich werden, die bereit sind, sich weit aus jeder vorstellbaren Komfortzone hinauszuwagen.
- Autor: Cordula Simon
- Titel: Mondkälber
- Verlag: Septime Verlag
- Erschienen: Juli 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 168 Seiten
- ISBN: 978-3991200451
Wertung: 10/15 dpt