Kein Buch, das ich in den letzten Monaten und Wochen gelesen habe, beschreibt die Gefühlslage, mit der ich auf die aktuelle politische Situation schaue besser, als Katharina Secks “Was wir nicht kommen sahen”. Aktuelle Bundeskanzlerkandidaten, die 1997 gegen den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe stimmten und die es heute als Affront bezeichnen, wenn Frauen über ihre eigenen Körper bestimmen wollen. Mitglieder der selben Partei, die Frauen das Wahlrecht entziehen wollen, weil sie zu emotional seien. Jugendliche, die in den USA “Your body, my choice” skandieren. Und nicht zuletzt die gerade veröffentlichte Bundeskriminalstatistik die beweist, dass die Gewalt gegen Frauen eklatant gestiegen ist. All das sind Ereignisse der letzten drei Wochen und all das bzw. was das für Auswirkungen haben kann, hat Katharina Seck in diesem Roman beschrieben.
Eines Abends verlässt die 18-jährige Ada ihr wohlbehütetes harmonisches Elternhaus und springt von einer Brücke. Sie ist sofort tot und hinterlässt keinen Hinweis darauf, warum sie es getan hat. Keinen Abschiedsbrief, keine vorherigen Anzeichen, nichts. Ihre Eltern bleiben völlig ratlos und verzweifelt zurück, doch ihre Mutter Jenny gibt keine Ruhe und beginnt selbst nachzuforschen. Stück für Stück deckt sie auf, wie Ada in kürzester Zeit zur Zielscheibe im Internet wurde und wie ihr die Gewalt, die ihr dort angetan wurde, letztendlich den Boden unter den Füßen wegzog …
Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt: In Rückblenden aus Adas Sichtweise und aus einer Perspektive von Adas Mutter Jenny in der Gegenwart. Stück für Stück decken wir so gemeinsam mit Jenny auf, was ihre Tochter dazu gebracht hat, Selbstmord zu begehen. Dazu erfahren wir in kleinen Ausschnitten immer wieder die Standpunkte und Beweggründe der Täter*innen. Das Buch liest sich spannend wie ein Thriller und ist gleichzeitig eine riesige und weit umfassende Gesellschaftskritik. Allgemein Misogynie, sexuelle Belästigung, mangelnde Unterstützung für junge Erwachsene durch Sozial- und Jugendämter, marode Gesundheits- und Krankenkassensysteme, Gewalt an Kindern, Instrumentalisierung von Kinderrechten während der Lockdowns für rechtspopulistische Zwecke, Incel-Netzwerke, Konsumgesellschaft, Verschwörungstheorien, Alkoholismus … die Contentwarnung hinten im Buch ist umfangreich, deckt aber bei weitem nicht alles ab. Man könnte meinen, dass all diese Themen in nur einer Geschichte den Plot unglaubwürdig machen würden – aber das Gegenteil ist der Fall. Die Charaktere sind nicht überzeichnet, das was Ada widerfährt ist absolut realistisch, die Motive der Täter*innen werden weder verteufelt noch wird um Verständnis geheischt.
Gleichzeitig ist dieses Buch nicht nur eine Geschichte über die Auswirkungen von Sexismus, Mobbing und psychischer Gewalt, sondern auch eine Geschichte über trauernde Eltern. Über Eltern, die viel zu früh und völlig unerwartet ihr Kind verlieren, die sich dabei zwischenzeitlich selbst und in Schuldgefühlen verlieren.
Katharina Seck schreibt wunderbar bildhaft und metaphorisch, so dass einem die Gefühle der Figuren selbst wirklich nahe gehen. Ich bin niemand, der bei Büchern schnell emotional wird – in den letzten Kapiteln von “Was wir nicht kommen sahen” habe ich Rotz und Wasser geheult.
“Ein Lachen ertönte, aber es war dumpf. Es blieb irgendwo in der Kehle der anderen stecken. In so einer Kehle kann sich eine Menge sammeln, dachte Ada, und irgendwann erstickt einen dieses Knäuel aus Gefühlen dann.”
Das Buch hat mich derart berührt, dass ich über kleinere Kritikpunkte (wie kleine Logikfehler oder die falsche Verwendung von “triggern”) hinwegsehen kann.
In anderen Rezensionen wurde häufig gefordert, das Buch zur Pflichtlektüre in Schulen zu machen. Dem stehe ich zwiegespalten gegenüber. Einerseits empfinde ich die Thematiken als brennend wichtig für die jüngeren Generationen und auch der Stil könnte einige sicher abholen. Andererseits bin ich nicht der Meinung, dass jede Lehrkraft dazu geeignet oder in der Lage wäre, diese Thematiken auch mit den Jugendlichen sensibel aufzuarbeiten oder zu erkennen, welche Dinge potentiell auch die eigenen Schüler*innen betreffen könnten.
Ich sehe das Buch aber ganz klar als Pflichtlektüre feministischer Belletristik, in einer Reihe neben Mareike Fallwickls “Die Wut, die bleibt”. Idealerweise in einer Leserunde oder Buchclub – denn dieses Buch sorgt für Redebedarf!
- Autor: Katharina Seck
- Titel: Was wir nicht kommen sahen
- Verlag: Bastei Lübbe
- Erschienen: 10/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 368
- ISBN: 978-3-7577-0069-0
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 14/15 dpt