“Flugwetter” ist ein ernstes Märchen
Hauptfigur ist Anton, ein Mann mittleren Alters, Angestellter in einem Reisebüro. Ein absolut introvertierter extrem schüchterner Mensch, der allein lebt und auch sonst keine erkennbaren Beziehungen zu anderen pflegt. Auf den ersten Blick wirkt er sehr ausgeglichen, nicht unzufrieden, aber bei genauerer Betrachtung wird deutlich, welch hohen Preis er für das stille ungestörte Leben zahlt. Denn Anton ist einsam und er spürt, dass ihm etwas fehlt, ohne es wirklich benennen zu können. Bewegung kommt in sein Leben als plötzlich seltsame Dinge passieren und Anton entdeckt, dass er fliegen kann. Und dann trifft er auch noch Pauline, die mit ihrem Goldfisch spazieren geht und erklärt, sie könne mit Fischen sprechen.
„Nun ja. Also mir ist da …“ , Anton räusperte sich, „also mir ist vorhin etwas Merkwürdiges passiert.“
„Tatsächlich?“ Die Frau wirkte neugierig.
„Ich glaube, ich bin tatsächlich ein bisschen geflogen.“ Nun war es heraus.
Dowidat beschreibt in ihrer märchenhaft anmutenden Erzählung, wie ihrer Hauptfigur Anton ganz langsam die verlässlichen festen Grenzen der Realität entgleiten. Anton beginnt sich selbst und seiner Wahrnehmung zu misstrauen. Hinzu kommt, dass er von Erinnerungsbildern heimgesucht wird, die er eigentlich lieber verdrängen möchte.
Der Alltag wird für Anton zu einem Balanceakt zwischen Realität und Phantasie. Die Autorin überlässt es ihrer Leserschaft, Antons Erlebnisse zu deuten. Seine Träume liefern Hinweise auf ein Trauma aus der Kindheit, dem Anton sich nicht stellen will. Doch es wird immer schwieriger für ihn, die in sein Leben einbrechenden phantastischen Elemente mit der Realität in Einklang zu bringen.
Hinter der leichtfüßig daher kommenden Prosa Dowidats verbirgt sich ein ernstes Thema. Es geht um Depressionen und Suizid. Die Autorin geht sehr behutsam vor. Mit Anton und Pauline erschafft sie zwei liebenswert skurrile Figuren, die man schnell ins Herz schließt. Es entsteht eine Art Parallelwelt, in der die „Verrücktheit“ dieser beiden eine eigene Logik entwickelt.
Der Plan Dowidats, eine Art Märchen zu erzählen, geht auf. Man beginnt zu verstehen, warum Anton die Idee vom Fliegen entwickelt. Für ihn ist es der einzige Weg, seine verlorene innere Freiheit zurückzugewinnen. Die Phantasie bietet ihm einen geschützten Raum, um sich den Ereignissen der Vergangenheit anzunähern. Doch ganz ohne Risiko ist auch dieser Weg nicht. Dowidat lenkt die Handlung sehr geschickt in ernste Bahnen und belegt dabei nachdrücklich, wie wenig man ihre Leichtigkeit beim Erzählen mit Naivität verwechseln darf.
Trotz der insgesamt gelungenen Darstellung möchte ich kleine Kritikpunkte anmerken. Es mag nur eine Lappalie sein, aber die Tatsache, dass Anton und Pauline sich durchgängig siezen, obwohl zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft, sogar eine sehr vertrauensvolle Beziehung, entsteht, nahm der Story etwas von ihrer Authentizität. Es passte für mich nicht zu der Entwicklung dieser beiden sich langsam einander öffnenden Personen und hielt mir beide Charaktere auf Distanz.
Dowidats poetischer Stil hilft dabei, sich der Schwere des Themas angemessen zu nähern. Die Langsamkeit ist ein notwendiges Mittel, um die Leser:innen nicht zu überfordern. Die Behutsamkeit, mit der die Autorin sich der heiklen Auflösung nähert, verleitet sie beim Erzählen gegen Ende zu einigen Redundanzen. Literarisch hätte ich mir an dieser Stelle ein wenig mehr sprachliche Varianz auf der Zielgeraden gewünscht. Die inhaltliche Intention wird dadurch jedoch betont, wodurch sich Dowidats Vorgehen rechtfertigen lässt.
Alles in allem setzt der Roman ein schwieriges Thema auf eine ansprechende Weise um. Vorallem Leser:innen, die im Kontext mit den genannten Themen auf ein didaktisches Vorgehen setzen, ist die Lektüre zu empfehlen.
- Autorin: A. S. Dowidat
- Titel: Flugwetter
- Verlag: BoD -Books on Demand
- Erschienen: Februar 2024
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 192 Seiten
- ISBN: 978-3758364846
Wertung: 10/15 dpt