“Frevel” bietet blutige Anatomie, hetzende Presse, gehasste Juden und ein aalglatter Serienmörder
Frankfurt im März, April des Jahres 1800. Auf der Zeil wohnen die Honoratioren der Stadt, so der Stadtrat Melchior Günderoth, der aus einer einflussreichen Patrizierfamilie stammt. Allerdings hat der Großhändler nicht nur viele Konkurrenten in den Ruin getrieben, er ist ganz allgemein verhasst. Jetzt sitzt er auf seinem Leibstuhl, der Schädel brutal eingeschlagen. In diesem findet der Rechtsmediziner Theophil Pontus die Spitze von einem Jad, dem Zeigestab der Juden, den diese zur Lektüre der Thora benutzen. Doch nicht nur der sogenannte Thorafinger führt den jungen Johann, Schreiber der „Frankfurter Korrespondenten“, in die Judengasse, zum Haus von Rabbi Schmuel, wo er niedergeschlagen wird.
Manon, die neugierige Tochter des Rechtsmediziners, kommt auf dem Marktplatz der Jüdin Esther zur Hilfe und begleitet diese anschließend in die Judengasse. Als sie sich dort unbefugt in die Mikwe begibt, wo sie im Wasserbecken eine ermordete Frau namens Jiska sieht, wird auch Manon niedergeschlagen. Wenig später finden Manon und Johann zusammen und müssen erkennen, dass der zuständige Kriminalrat Pfeiffer die Unfähigkeit in Person ist. Er stürzt sich blindlings auf einen harmlosen Bettler als vermeintlichen Mörder des Stadtrates.
Manon fand, dass das wichtigste Organ das Gehirn wäre, nur leider mangelte es Pfeiffer daran ebenso wie an Rückgrat.
Derweil stoßen Manon und Johann auf Hinweise, die immer verwirrender werden. Die Hebamme der ermordeten Jiska verschwand bis heute spurlos am gleichen Tag, an dem Günderoth erschlagen wurde. Es dauert nicht lange und ein weiterer Mord sorgt für Entsetzen. Erneut trifft es eine junge Frau und alles deutet darauf hin, dass der einst als „Aal“ bekannte Frauenmörder der Täter sein muss. Einziger Haken an der Theorie: Johann war vor drei Jahren bei dessen Hinrichtung unmittelbar dabei.
Keine Angst vor blutigen Eingriffen
Nora Kain (Pseudonym) hat einen großartigen Historischen Thriller vorgelegt, der atmosphärisch dicht in die damalige Zeit einführt. Die Rechtsmedizin steckt noch in ihren Kinderschuhen und so nimmt Theophil Pontus dankbar jede Leiche und jeden Körperteil an, welche er für Obduktionszwecke nutzen kann. Manon ist fasziniert von der Arbeit ihres Vaters und versteht sich glänzend mit den Menschen, sofern diese denn tot sind. Gänzlich unüblich für die Zeit gibt sie die unerschrockene, forsche Frau, die beim Umgang mit blutigen Leichen ihre wahre Passion findet. Ganz zum Entsetzen ihrer Schwester, denn das schlichte Gemüt einer Frau, die ihrem Mann … man ahnt, wie der Satz weitergehen könnte. Nicht nur die Dialoge zwischen den ungleichen Schwestern sowie die mitunter impertinente Art von Manon lassen den Leser dankbar schmunzeln. Dies ist auch nötig, denn die Einblicke in die Medizin, genauer der Leichenschau, sind teils explizit. Bissige Dialoge treffen auf kleine Ekelfaktoren, es soll nur mal erwähnt sein.
„… Frauen.“
„Mit dem Geschlecht hat das nichts zu tun, nur mit der Ausbildung an der Universität.“
„Die mir ja wegen meines Geschlechts verwehrt bleibt.
Johann ist der Gegenpart zu Manon, denn er kann kein Blut sehen. Sein empfindlicher Magen spielt nur selten mit, was nicht zu seiner Arbeit passt, denn sein Chef hat es gerne detailliert, um nicht zu sagen blutig. Unterhaltung und Provokation sind gefragt, notfalls wird gegen die Juden gehetzt, Hauptsache die Auflage steigt. Dies widerspricht Johanns Berufsehre, denn er fühlt sich gänzlich der Wahrheit verpflichtet. Man merkt, durch die beiden Hauptfiguren werden aktuelle Themen wie Emanzipation und Fake News ins Spiel gebracht.
„Ich sage dir was über dein gemeines Volk. Das unterscheidet weit weniger zwischen Gut und Böse, Wahrheit oder Lüge, als du denkst. Es unterscheidet nur zwischen spannenden und öden Geschichten. Und am spannendsten sind die grausamsten.
Der Kriminalrat ist – wie erwähnt – ebenso einfältig wie faul. Erst ein unschuldiger Bettler, der es aufgrund eines bestimmten Umstandes nicht gewesen sein kann, danach wird Rabi Schmuel verdächtigt, was die ohnehin aufgeheizte Stimmung gegen die Juden weiter aufstachelt. Pogromstimmung liegt in der Luft, auch hier sind Manon und Johann gefordert, um Schlimmstes zu verhindern. Der Krimiplot ist deutlich über Durchschnitt, denn der Spannungsbogen bleibt durchgehend auf hohem Level und zum Finale gibt es obendrein eine raffinierte Finte, auf die die meisten Leser reinfallen dürften.
Anfänge der Rechtsmedizin, wilde Auswüchse im Journalismus, Hass gegen die Juden, alte Frauenbilder, reichlich Action, blutige Szenen und köstlich-bissige Dialoge ergeben ein bildgewaltiges Gesamtwerk. Eine klare Empfehlung für Genrefans!
Autorin: Nora Kain
Titel: Frevel
Verlag: dtv
Umfang: 384 Seiten
Einband: Taschenbuch
Erschienen: Oktober 2024
ISBN: 978-3-423-26399-3
Wertung: 13/15 dpt