Ich dachte immer, dass ich aus der normalsten Familie der Welt komme.
Mit diesem ersten Satz beginnt Doris Wirth ihren drei Generationen umspannenden Familienroman. Sie legt ihn Florence, dem jüngsten Familienmitglied, in den Mund. Wie „normal“ die Familie von Florence, ihrem Bruder Lukas und den Eltern Erwin und Maria ist, macht Wirth schnell klar. Rückblickend wird zunächst die Familiengeschichte ausgehend von den Großeltern zusammengefasst. Der Erzählbogen überspannt die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute. Schnell werden erste Muster sichtbar. Wohlstandssicherung ist das oberste Lebensziel, Traditionen werden dafür ein als Mittel zum Zweck betrachtet. Das Abweichen von dieser Norm durch die jüngere Generation wird durch die Älteren sanktioniert bzw. missbilligt. Der klassische Konflikt zwischen den Generationen mündet meist darin, dass sich die jüngere Generation den herrschenden gesellschaftlichen Normen fügt. Biografien werden zu gelebten Kompromissen. Alle Protagonist:innen durchlaufen bei Wirth diesen Prozess.
Zur zentralen Figur ihres Romans macht die Autorin Erwin, einen Familienvater der mittleren Generation, der sich den Anforderungen von Familie und Gesellschaft nicht mehr gewachsen sieht. Sein Ausstieg, der zur wilden Flucht gerät, bildet die Rahmenhandlung. Im Laufe der daraus entstehenden Roadstory zeichnet sich der unaufhaltsame Kontrollverlust ab, den Erwin erleidet – symptomatisch für ein Leben, in dem nichts zu gelingen scheint, weil es der klassichen Erfolgsnorm der kapitalistischen Gesellschaft nicht entspricht. Einfühlsam und intensiv porträtiert Wirth einen Mann, der verzweifelt einen Ausweg aus der Realität sucht und sich dabei immer hilfloser in seinen Wahnvorstellungen verirrt.
Das besondere an Wirths Roman ist die Erzähltechnik, mit der sie die Perspektiven aller ihrer Protagonist:innen einnimmt und zu einem vielfältigen Gesamtbild zusammenfügt. Immer wieder präsentiert sie eine andere Erzählperspektive. Sukzessive betreten neben Erwin, dem Vater, auch Mutter Maria und die Kinder Lukas und Florence die Bühne. Jeder ihrer Figuren gewährt Wirth viel Raum. Ausführlich wird jeder einzelne Werdegang erzählt, werden Wünsche und Erwartungen ebenso wie Enttäuschungen und Verletzungen protokolliert und die Entwicklung der Protagonist:innen authentisch dargestellt.
Wirths Drei-Generationen-Geschichte entpuppt sich immer mehr zu einem komplexen Gesellschaftsroman. Sorgfältig nimmt die Autorin die klassischen Rollenbilder ins Visier. Das Ideal des arbeitenden karrieremachenden Familienvaters gerät dabei ebenso in die Kritik wie das klassische Bild der aufopferungsvollen Ehefrau und Mutter. Anschaulich offenbart Wirth wie patriarchale Überzeugungen zum persönlichen Belastung werden und den Einzelnen in seiner Persönlichkeit einschränken.
Detailliert nimmt Wirth sich die verschiedenen Generationen vor. Behutsam berücksichtigt sie den jeweiligen Zeitgeist und zeichnet den allmählichen Wandel nach.
Mit Erwin stellt sie einen Mann ins Zentrum ihres Romans, der an den Ansprüchen, die man an ihn stellt, allmählich zerbricht. Zuerst wird ihm die Rolle des gehorsamen Sohnes aufdoktriniert. Entgegen dem väterlichen Willen schlägt er einen anderen als den vom Vater gewünschten Berufsweg ein. Doch echte Freiheit erlangt er dadurch nicht. Lebenslang fühlt er sich in der Schuld des Vaters und versucht seinen Ungehorsam als Sohn durch beruflichen Erfolg zu kompensieren. Als er selbst die Rolle des Versorgers einnimmt, kommt die Last der wirtschaftlichen Verantwortung für die eigene Familie hinzu, die er, seinem verinnerlichen Ansprüchen folgend, allein tragen will.
Auch das Weltbild von Mutter Maria ist fest in patriarchalen Strukturen verankert. Ehe und Familie sind ihr Ideal. Erwin ist für sie der Mann, von dem sie erwartet, dass er seinen Part zur Verwirklichung dieses Lebenstraums leistet. Mit Maria porträtiert Wirth eine Frau, die sich ganz in diese Idealvorstellung fügt. Eine Frau, die bis zur Erschöpfung der Doppelbelastung von Mutterschaft, Haushalt und Beruf standhält und widerspruchslos versucht, allem gerecht zu werden, wobei sie immer wieder in die Konfliktzone zwischen Kindern und Mann gerät. Wirth entlarvt die Vorstellung, der Weg zum Lebensglück liege darin, das „Richtige“ zu tun und dem „Erwarteten“ gerecht zu werden, als klare Lüge.
Mit der Generation der Kinder deutet sich ein Wandel an. Lukas und Florence widersetzen sich offen den patriarchalen Strukturen, die sie im Elternhaus erfahren. Dass der Druck von außen auch bei ihnen zu phsychischen Verletzungen führt, zeigt Wirth am Beispiel der Tochter Florence, die mit Essstörungen reagiert. Trotzdem begehren beide gegen die Eltern auf und wagen einen eigenen Weg.
Wirth tut nicht so, als sei es leicht, sich von den alten Strukturen zu emanzipieren. Sie geht offen mit den Ängsten ihrer Figuren um und zeigt deren unschöne Auswirkungen. Trotzdem lässt sie ihre Leser:innen Hoffnung schöpfen, dass es gelingen kann, sich der eigenen Freiheit zu stellen. Sie entlarvt die internalisierte Furcht vor dem Riskiko zu scheitern als einen Mechanismus patriarchalen Denkens, den es zu überwinden gilt.
Der Roman endet leise. Den Ausgang hält die Autorin offen. Das wirkt auf den ersten Blick so als habe Wirth ihre Geschichte noch nicht auserzählt. Als sei ihr kein geeignetes Ende eingefallen. Aber im Grunde passt das sehr gut. Denn die Geschichte bleibt offen. Mit jeder Generation kommt etwas Neues hinzu und wenn man Wirth folgen möchte, dann steckt in diesem Neuen viel Potential für Besseres.
Mit ihrem Debütroman stand Doris Wirth auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024.
Auch aus der booknerds-Redaktion kommt eine große Lese-Empfehlung.
- Autorin: Doris Wirth
- Titel: Findet mich
- Verlag: Verlagsname Geparden Verlag
- Erschienen: März 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 320 Seiten
- ISBN: 978-3907406113
Wertung: 14/15 dpt