Joachim B. Schmidt schlägt in seinem Roman „Moosflüstern“ ein in unseren Breiten eher unbekanntes Kapitel deutsch-isländischer Geschichte auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten rund 200 deutsche Frauen nach Island aus. Die Esja-Frauen, genannt nach dem Frachter Esja, der sie zur Insel brachte, kamen als Arbeitskräfte, die die isländische Regierung angeworben hatte. Viele von ihnen blieben. Was brachte die Frauen dazu, ihre Heimat zu verlassen? Wie erging es ihnen in der neuen Umgebung? Schmidt siedelt seinen Plot auf zwei Zeitebenen an, um die Geschichte einer dieser Frauen und ihrer Nachfahren zu erzählen.
Der vierizgjährige Heinrich Liebers erfährt von Vater und Stiefmutter vom kürzlichen Tod der leiblichen Mutter auf Island. Er war bisher davon ausgegangen, dass sie direkt nach seiner Geburt kurz nach dem Krieg gestorben war. Nun muss er erfahren, dass sie ihn und seinen Vater zurückgelassen hat, um nach Island zu gehen. Als sich zeitgleich ein Unfall mit Todesfolge auf einer von ihm betreuten Baustelle ereignet, ist der überkorrekte Bauingenieur völlig aus der Bahn geworfen. Kopflos bricht er auf, um sich auf Spurensuche zu begeben.
Alternierend wechselt Schmidt die Handlungsstränge. Mal begleitet er als auktorialer Erzähler Heinrichs Reise, bei der sich der verschlossene Mann auch seiner eigenen Geschichte stellt, mal lässt er im Tagebuchstil Heinrichs Mutter als Ich-Erzählerin von den vierzig Jahren zurückliegenden Ereignissen berichten.
Schmidt nutzt den äußerst effektvollen Kontrast seiner beiden Settings, um Spannung aufzubauen. Das hektische urbane Lebensgefühl der späten Achtziger in Deutschland stellt er dem nahezu zeitlos wirkenden, naturnahen Leben auf Island gegenüber. Dabei entstehen im Grunde zwei Geschichten, die in ihrem Grundton völlig unabhängig voneinander funktionieren und auch stilistisch nicht wirklich miteinander harmonieren.
Heinrich Liebers stolpert tolpatschig durch seinen Teil des Romans. Schmidt verleiht dem midlifekrisengeschüttelten Vierzigjährigen ebenso komische wie rührende Momente. Als sei das Trauma des Mutterverlustes nicht ausreichend genug gewesen, wird seiner Geschichte auch noch ein berufliches Versagen mit tragischen Konsequenzen hinzugefügt. Um die Handlung am Laufen zu halten, hätte es dieser Überspitzung nicht bedurft. Sie wirkt sogar etwas ablenkend in Bezug auf den sehr viel ruhiger, aber dafür auch emotional intensiver erzählten „isländischen“ Teil des Romans.
Die Geschichte von Heinrichs Mutter, in der Bezug genommen wird den Zweiten Weltkrieg und die tramatischen Erlebnisse dieser Generation, wirkt sehr viel authentischer als der moderne Teil um Heinrich. Mit großem Einfühlungsvermögen zeichnet Schmidt die Biografie einer verletzten Seele nach, die auf einem entbehrungsreichen Weg zu neuem Lebensmut und Glück findet. Allein für diesen Teil des Romans lohnt sich die Lektüre.
Wie in seinen anderen Romanen, bei denen Island Schauplatz ist, zeichnet Schmidt auch hier ein ebenso liebevolles wie lebensnahes Bild von Land und Leuten. Man kann sagen, dass Island nicht weniger als die menschlichen Protagonist:innen eine tragende Rolle spielt, um derentwegen der Roman einen Großteil seiner Qualität zu verdanken hat.
- Autor: Joachim B. Schmidt
- Titel: Moosflüstern
- Verlag: Diogenes Verlag
- Erschienen: August 2024
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 288 Seiten
- ISBN: 978-3257247251
Wertung: 11/15 dpt