Hari Kunzru – Blue Ruin (Buch)


Von “White Tears” über “Red Pill” zu “Blue Ruin”, ähnlich wie Regisseur Krzysztof Kieślowski, hat Hari Kunzru seine eigene weißrotblaue Farbtrilogie erschaffen, deren Abschluss der Künstlerroman “Blue Ruin” bildet. Geschichten von Verlust (der Integrität, der individuellen Visionen, der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit), Verrat, Fehlurteilen und Auflösung, gipfelnd in der “Fugue”, dem Projekt des Künstlers Jay, der fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Flucht aus dem Kunstbetrieb dazu angeregt wird, seinen Weg des permanenten Scheiterns (oder besser Verweigerns) als lebenslanges Kunstwerk neu zu interpretieren.

Jay lebt in seinem maroden Auto und arbeitet als Essensauslieferer, einem Job, der während und nach der Corona-Pandemie Konjunktur hatte. Bei einer seiner Ausfahrten trifft er vor einem Herrschaftshaus völlig überraschend auf Alice, seine große Liebe aus der Vergangenheit, die ihn mehr als zwei Jahrzehnte zuvor sang- und klanglos verlassen hatte. Beide erkennen sich trotz Gesichtsmasken wieder, und Alice bringt den körperlich angeschlagenen Jay in einem unbewohnten Nebengebäude unter, in dem er sich erholen soll.

Dort erfährt Jay, dass Alice seit der Trennung mit seinem damaligen Künstlerkollegen und Freund Rob liiert ist. Jay reflektiert die gemeinsame Geschichte, sinniert über Erfolge und Verfehlungen. Als es endlich zu einem Zusammentreffen kommt, ist Rob zunächst wenig begeistert. Im Gegensatz zum Hausverwalter, Verschwörungsfan, Paranoiker und Galerist Marshall, der, nachdem er ihn zunächst mit einer Waffe bedroht und Fesseln anlegt, in Jay den fast legendären Künstler erkennt, der zur Vollendung seines Hauptwerks “Fugue” (Flucht, Verflüchtigung) wieder aus der Versenkung auftaucht. Eine Idee, die Jay zeitweise gedanklich adaptiert.

Doch alles, was zusammenfindet, muss auch wieder auseinanderdriften. Was angesichts des titelgebenden Gemäldes “Blue Ruin” auch passiert. “Blue Ruin” (“Fusel”) ist das billig destillierte Pendant zur “Green Fairy”, hinterlässt mehr Schaden als rauschhafte Glücksgefühle. Im Falle des zu verkaufenden Gemäldes bedeutet dies, handelt es sich um ein Werk des verhassten FDP (“Famous Dead Painter”), für den Rob vormals arbeitete, ist es eine lukrative Wertanlage. Stammt es jedoch von einem Künstler auf dem absteigenden Ast, ist es eine Geschichte, die nur Beteiligte interessiert – und den Wert drückt. Auf jeden Fall ist es eine Lüge.

So werden alle Figuren herumgerückt auf einem übersichtlichen Feld – zu Jay, Alice, Rob und Marshal gesellt sich noch Nicole, “Marshals Vorzeigefreundin”. Dort reflektieren sie Anschauungen und beschrittene Lebenswege. Im Hintergrund sorgen die getroffenen Maßnahmen und Ängste während der Corona-Pandemie für eine Zäsur. Als bedrohliche Beiläufigkeit inszeniert, setzt Corona inhaltlich wichtige Akzente. Diskutiert Kunzru aber mit wenigen Einschüben die Maßnahmenkataloge während und nach diversen Lockdowns wirkt es wie eine Mischung aus leidiger Pflichterfüllung und Fremdkörper.

“Blue Ruin” handelt von Menschen, die sich und ihr Tun beständig reflektieren. Im Spiegel der Kunst werden Arrangements, Kollaborationen erschaffen und verworfen. Jay treibt die Frage um, inwieweit der Künstler hinter seiner Kunst verschwinden muss, um sie wirken zu lassen. In diesem Punkt ist er zumindest konsequent, denn als Künstler verflüchtigt sich Jay, übrig bleibt ein Mensch, der sich im Niedriglohnsektor abrackert und körperlich ruiniert. Kunst als Lebensunterhalt ist kein Thema für Jay. In der Zeit des Zusammenlebens mit Alice ist Gelderwerb auch nicht nötig, da diese, aus einer reichen Familie stammend den Lebensunterhalt sowie die mitunter massive Versorgung mit Drogen stemmen konnte.

Die Kunst dominiert das Leben, ist aber allzu oft nur Ausflucht, um zwischenmenschlicher Kommunikation, oder gar Konflikten aus dem Weg zu gehen. Bald zeigen sich erste Risse, aus Rausch wird Betäubung und nicht nur fehlende soziale Interaktivität führt zum Scheitern. Dass sich binnen kurzem (Jay) oder über einen längeren Zeitraum (Rob) einstellt.

Søren Kierkegaard benannte als Trödie des Lebens:  “Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.”

Diese Diskrepanz wird Jay bewusst, als er sich mit seinen ehemaligen Weggefährten im Schatten einer weltweiten Pandemie in einem begrenzten Areal eingeschlossen, wiederfindet. Hari Kunzru spielt hier mit einer Verquickung von Beeinfluss- und Unwägbarem. Viele Fehler hätten vermieden werden können, wenn man die einfachste Grundregel menschlichen Zusammenseins beherzigt hätte: miteinander zu reden. Denn es gibt so viel anderes, dass Planungen und Sein prägt. Wer in der eitlen Kunstwelt Erfolg hat und wer nicht, ist vom Zufall begünstigt, vielleicht auch von Kunst zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Noch weniger berechenbar sind äußere Geschicke wie Krankheiten, Gewalt oder das Wetter.
Kunsttheorien werden erörtert, gegenübergestellt, eingefordert oder verworfen. Essenzielles wird so oft beschworen, und bleibt in “Blue Ruin” kaum mehr als oberflächlicher Zeitvertreib. Der Lebenszeit kostet, weshalb die Akteure wie Flaneure im eigenen Dasein wirken. In der ansonsten positiven Kritik im Deutschlandfunk Kultur wird dem Roman ein Mangel an “dramaturgischer Straffheit” vorgeworfen. Dabei dreht es sich in “Blue Ruin” genau um diesen Mangel, die Bemühungen aller Beteiligten, ihrer Ziellosigkeit, dem Herumdriften zu entkommen. Hari Kunzru setzt diesen Taumel durchs Instabile stilistisch exzellent um.

Selbst Alice, die geerdeter als ihre Künstlerfreunde scheint, ist gefangen in seltsamen familiären Bindungen und Ängsten, und wird bei der Umsetzung ihrer Interessen nicht einmal von den Personen ernstgenommen, deren Leben sie allen Bekundungen nach deutlich prägt. So wird sie zu einem überalterten Rollenklischee, zur Muse, die gibt, aber auch nimmt, und verschwindet, wenn es an der Zeit ist zu gehen.

“Blue Ruin” bietet ein Tableau von fragilen Beziehungen, Unsicherheiten, verzweifelten Versuchen einen Fixpunkt in einem sich ständig bewegenden Kosmos zu finden. Das mag in seiner kritischen, bitterkomischen Abrechnung mit einer bestimmten Künstlerblase und der Hohlheit des florierenden Kunstmarkts der Neunziger zu lesen sein, stellt aber auch einen schweifenden Blick auf die Unbehaustheit des modernen Lebens dar.

Besitzt genau deswegen eine anziehende Faszination. Mehr Rätselhaftes im Alltäglichen zu suchen, anstatt Banalitäten zu finden. Fällt schwer genug.

Cover © Liebeskind Verlag

  • Autor: Hari Kunzru
  • Titel: Blue Ruin
  • Originaltitel: Blue Ruin
  • Übersetzer: Nicolai von Schweder-Schreiner
  • Verlag: Liebeskind
  • Erschienen: 05/2024
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 339
  • ISBN: 978-3954381739
  • Sprache: Englisch
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


Wertung: 12/15 dpt


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