Marc-Uwe Kling – Views (Hörbuch)


Lena. Seit Tage verschwunden. Nun Opfer eines sadistischen Videos, in dem sie von mehreren Männern vergewaltigt wird. Die BKA-Beamtin Yasira Saad wird mit den Ermittlungen beauftragt. Diese beginnen gemächlich. Erst als ein Video eines Anhängers des Aktiven Deutschen Heimatschutzes auftaucht, in dem dazu aufgerufen wird, die Täter des Videos auf eigene Faust zu suchen, um Selbstjustiz zu verüben, wird Yasira und ihren Kollegen das Ausmaß des Videos bewusst, welches seit Hochladen viral geht.

Der Vater – ein besorgter Mann, der jeden Tag Lasagne backt. Lenas Lieblingsgericht.

Der Freund – ein Loser, der zu viele Drogen nimmt.

Die Freundin – nicht mehr ihre Freundin. Lena hat sich schon lange abgekapselt.

Wo ist Lena? Wer sind die Männer in dem Video? Und bleibt der Aufruf des Aktiven Deutschen Heimatschutzes folgenlos?

Mit Views wurde nun der erste Thriller des erfolgreichen Autors und Hörbuchsprechers, Filmemachers und Kleinkünstlers veröffentlicht. Bereits jetzt schon in den Spiegel-Bestsellerlisten vertreten, wird das Buch so groß gehypt, dass es scheint, als gehörte es zu jenen, die in diesem Jahr unbedingt gelesen werden sollten.

Profitiert Views vom Namen seines Urhebers, oder erfährt es die Begeisterung zu Recht?

Die Geschichte beginnt mit einem Knall. Yasira befindet sich auf einem miesen Date, wo sie von einem Vergewaltigungsvideo erfährt. Der Clip ist brutal, abscheulich und soll schonmal sämtliche Leser*innenherzen zum Stocken bringen. Ein erster Höhepunkt, um gleich zu Beginn zu fesseln. Gut gemacht.

Direkt am nächsten Tag wird Yasira mit den Ermittlungen betraut. Begründung: Sie stellt die Quotenfrau mit Migrationshintergrund dar. Schwierig. Was folgt, sind klassische Ermittlungen im Stil eines Tatort-Films. Alles daran lässt anzweifeln, ob es sich bei dem Buch tatsächlich um einen Thriller handelt. Vielmehr findet sich hier der Verlauf eines guten Kriminalromans.

Fahrt nimmt die Story schließlich auf, als das Video zu einem Politikum wird. Der Aktive Deutsche Heimatschutz schaltet sich ein, im wahrsten Sinne des Wortes. Hier trifft Panik und Hass auf Volksverhetzung, sodass die Ermittlungen ihren Fokus verlagern von einem vermissten und missbrauchten Mädchen hin zu Unbekannten, die auffordern, Lenas Täter zu töten.

Immer mehr spitzt sich die Lage zu, da die Rechten Erfolg aus ihren Videos schöpfen und es irgendwann zu blutigen Aufständen mitten in Berlin kommt, Tote inklusive.

Und hier setzt eine große Kritik an: Ja, wir kennen alle die Bilder, in denen das Weiße Haus gestürmt wurde. Wir kennen alle die Bilder vom Reichstagssturm 2020. Und doch…

Hat Marc-Uwe Kling hier nicht zu hoch angesetzt? Denn wie es sich scheinbar für eine Geschichte gehört, die fesseln soll, reicht ein Sturm nicht aus. Es müssen auch noch Handgranaten geschossen werden. Weniger wäre an dieser Stelle mehr gewesen. So wirkt es unglaubwürdig und erntet allenfalls ein Augenrollen anstelle eines Entsetzens.

Leider zieht sich die Entscheidung des Autors, von allem etwas mehr hineinzulegen, durch das gesamte Buch. So kommt dann später – natürlich – auch noch ein Maschinengewehr zum Einsatz.

Doch worum geht es Kling eigentlich mit dieser Geschichte? Es geht um… Verraten wir nicht. Bekommen die Lesenden jedoch während der Lektüre zusehends den Eindruck, es handele sich darum, die Gefahren durch Rechte hervorzuheben, bietet der Thriller tatsächlich mit einer Wendung auf, die man so nicht erwartet hätte. Doch keine Angst: Es soll an dieser Stelle nicht gespoilert werden.

Es ist Klings erster Thriller. Diesen Titel verdient das Buch erst gegen Ende der Geschichte. Bis dahin stellt es – wie gesagt – einen soliden und gut recherchierten Krimi dar. Doch werden die Erwartungen der Leser*innen erfüllt? Immerhin erwartet man von dem Autor nichts anderes als eine außergewöhnliche Veröffentlichung, die sich mindestens monatelang in den Bestsellerlisten einnistet.

Der Plot ist ausgereift. Die Wendung lässt Augen groß werden. Die Botschaft besticht durch die Nähe zur Realität. Angst wird erzeugt. Spiegel vorgehalten. Man versteht, was Marc-Uwe Kling zum Ausdruck bringen möchte. Aber der Weg dahin ist holprig. Aus mehreren Gründen:

1. Views wirkt gezwungen. Als hätte der Autor darauf achten wollen, sämtliche Kritikpunkte des Genres zu umgehen, besetzt er die Hauptrolle nicht nur weiblich, sondern auch mit einer Frau mit Migrationshintergrund. Leider verpasst er es jedoch, Vielfalt unter die weiteren Charaktere zu mischen. Und das Opfer ist… klar: weiblich.

2. Die Figuren sind nichts Besonderes. Hier bedient sich der Schriftsteller sämtlicher Klischees. Der Kollege, der zu wenig Sport treibt, immer nur nörgelt und gerne isst. Der Nerd, der eben… naja… Nerd ist. Die eifrige Ermittlerin, die auch in ihrer Freizeit nichts anderes als ihre Arbeit kennt und daher auch gerne auf eigene Faust ermittelt.

3. Das eigentliche Opfer wird vernachlässigt. Wo ist Lena? Wo bleibt das Mädchen, um das es doch eigentlich gehen sollte? Lena wird von Krawallen überschattet. Leider so stark, dass sie in Vergessenheit gerät.

4. Eine persönliche Bedrohung für die Tochter der Ermittlerin wird angedeutet, aber nicht weiter aufgenommen.

5. Und das wird nun der größte Kritikpunkt: Yasira hegt den Verdacht, es könnte sich bei dem Vergewaltigungsvideo um ein Fake handeln. Diese Aussage könnte schwerwiegende Folgen haben. Wagen wir einen Sprung in die Realität: Vergewaltigungsopfern wird in den seltensten Fällen geglaubt. Von hundert Vergewaltigern wird durchschnittlich einer verurteilt. Oftmals fehlen Beweise. Wenn es nun aber Beweise gäbe? Wenn dieser Beweis ein Foto oder ein Video wäre? Natürlich ließe sich das alles kriminaltechnisch untersuchen und sicherstellen. Aber gesellschaftlich? Wie schnell lässt sich sagen: Ist doch Fake! Ich glaub ihr trotzdem nicht. Kurz: Sollte man der Gesellschaft tatsächlich noch mehr Dinge in die Hand geben, die sie dazu nutzt, um Missbrauchsopfern nicht zu glauben? Ein Video von einer Gruppenvergewaltigung? Ist doch Fake.

Betrachtet man die Erzählweise des Autors, so hebt sie sich nicht von seinen vorigen Erscheinungen ab. Die Sprache ist flüssig, leicht verständlich. Wenige Schmunzler sind eingebaut, wo vorher große Lacher waren. Aber stilistisch hebt sich Views nicht von seinen Vorgängern ab.

Da Kling das Hörbuch selbst eingesprochen hat, sollte auch dazu etwas gesagt werden: Wer die Känguru-Chroniken von ihm gehört hat, weiß, wie einzigartig talentiert der Künstler im Sprechen verschiedener Charaktere ist. Man denke an Hertha, Friedrich und zwei Polizisten, die die Daten des Kängurus aufnehmen. Aber: Was beim Känguru, Spurenfinder, etc. ein wahres Vergnügen ist, erscheint hier… fehl am Platz.

Zum einen hat der Autor eine sehr angenehme Stimme, doch für einen Thriller erscheint sie zu hell und zu klar. Zum anderen kommt hinzu, dass er auch hier seinen Figuren unterschiedliche Stimmen verleiht. Das ist nicht nötig. Im Gegenteil. Da seine Stimme bereits so bekannt ist, rechnen Hörer*innen permanent damit, dass sich plötzlich das Känguru einschaltet und irgendeinen politischen Witz reißt. Das kommt vor allem dann zum Vorschein, wenn er als Yasiras Vorgesetzter spricht.

Fazit

Es ist eine gute Geschichte, die Marc-Uwe Kling geschrieben hat. Sie hat fesselnde Spannungsmomente und eine klare Botschaft, wo bei vielen anderen Thrillern oft nur Blut und Gemetzel ist. Leider sind die Stolpersteine so groß, dass die Leser*innen nicht darüber hinwegschreiten können, sondern eben daran hängen bleiben. Das zieht sich von der Handgranate bis hin zu tiefgreifenden Thematisierungen, dessen mögliche Wirkung der Autor vermutlich nicht bedacht hat.

  • Autor: Marc-Uwe Kling
  • Titel: Views
  • Verlag: Ullstein / Hörbuch Hamburg
  • Umfang: 272 Seiten
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Erschienen: 27. Juni 2024
  • ISBN: 978-3-550-20299-5
  • Produktseite

Wertung: 10/15 dpt


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