Layla Martínez – Heiligenbilder und Heuschrecken (Roman)


Die Grenzen zwischen Realität und Imagination sind fließend, in diesem Roman von Layla Martínez. Enkelin und Großmutter leben gemeinsam in einem Haus, in dem die Familiengeschichte förmlich mit dem Mauerwerk verwachsen ist. Das Haus selbst scheint lebendig. Es reflektiert jede noch so kleine Stimmung seiner Bewohnerinnen.

 

Sobald ich über die Schwelle war, hat sich das Haus auf mich gestürzt.

Seite 7

Die beiden Frauen scheinen sich zu hassen. Doch im Laufe der Geschichte kommt heraus, was die beiden wirklich zusammenhält. Sie teilen ein gemeinsames Schicksal und darüber hinaus eine gemeinsame Begabung: Sie sehen Geister und Heilige. In ihnen begegnen sie der eigenen Vergangenheit und den starren Traditionen, die ihr Leben dominieren. Die Heiligen sind keine gutmütigen schützenden Wesen. Sie ähneln großen bedrohlichen Heuschrecken, die das Haus und ihre Bewohnerinnen in Schach halten.

Martínez folgt beim Erzählen keiner klaren Chronologie. Sie lässt die beiden Frauen kapitelweise abwechselnd erzählen, mal die junge, mal die alte, bis sich daraus eine gemeinsame Geschichte zusammenfügt. Die Handlung selbst umspannt mehrere Generationen und es dauert eine Weile bis sich die Zusammenhänge erschließen. Man erfährt: Ein Unglück ist geschehen. Ein Kind, auf das die Enkelin aufpassen sollte, ist verschwunden und die junge Frau wird verdächtigt etwas damit zu tun zu haben. Doch hinter diesem Ereignis steckt noch viel mehr.

Der Erzählton ist trotzig, schnodderig, die Autorin ist nah dran in ihren beiden Protagonistinnen, denen die Worte ungeschönt und manchmal auch ohne Interpunktion aus dem Mund fließen.

Martínez lässt eine archaische Dorfgemeinschaft in Südspanien vor uns entstehen. Hier haben traditionelle patriarchale Strukturen die Menschen fest im Griff, vor allem aber die Frauen, die sich fügen müssen. Ein Entkommen ist aussichtslos. Die Enkelin hat es probiert, aber auch in der Stadt konnte sie ihren sozialen Status nicht abstreifen. Nun ist sie wieder zurück im Dorf und vom einzigen Arbeitgeber, der Familie Jarobo, abhängig. Sie wird deren Kindermädchen für den jüngsten Sohn.

Wenn du nichts hast, dann bekommst du genau das: nichts. Leute wie uns will man nicht in der Hauptstadt zum Studieren haben, vielleicht zum Bedienen, das ja, aber davon gibt es mehr als genug.

Seite 67

Martínez‘ Roman ist eine böse Rachestory. Eine spannende Erzählung mit überraschendem Finale. Ein emanzipatorischer Befreiuungsschlag. Ein derber Angriff auf soziale Ungerechtigkeit und Klassen-Hierarchie. Und der Roman ist ein literarischer Schatz, wunderbar übersetzt von Christiane Quandt, die den kraftvollen Ton des Originals ohne Verluste ins Deutsche überträgt.

Große Leseempfehlung!

  • Autorin: Layla Martínez
  • Titel: Heiligenbilder und Heuschrecken
  • Originaltitel: Carcoma
  • Übersetzerin: Christiane Quandt
  • Verlag: Eichborn Verlag
  • Erschienen: Mai 2024
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 160 Seiten
  • ISBN: 978-3847901655

Wertung: 14/15 dpt


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