Ähnlich wie in ihrem gefeierten Debüt „Blauschmuck“ hat Winkler erneut ein extrem aufrüttelndes Thema gewählt. Es geht um den sexuellen Mißbrauch eines Kindes durch den eigenen Vater.
Der Text umspannt einen großen Zeitrahmen. Zu Beginn ist die Hauptfigur noch ein Grundschulkind, am Ende eine erwachsene Frau. Winkler zeichnet alle Stationen der lebenslangen Leidensgeschichte nach, indem sie die namenlos bleibende Protagonistin ihr Martyrium selbst erzählen lässt.
Das besondere an diesem Text ist zweifelohne die Sprache, die Winkler wählt. Dem Mädchen fehlen anfangs die Begriffe für einen Vorgang, den es nicht versteht und so wählt es vertraute Märchenworte. Diese bilden zugleich einen Schutzschild, hinter der sich das Kind zurückziehen kann.
So begegnet uns, den Lesenden, besonders in der ersten Hälfte des Romans, eine in Versen gegossene poetisch anmutende Märchensprache, die das schreckliche Geschehen in Metaphern verhüllt. Winkler gelingt es auf diesem Weg, das Unsagbare sagbar zu machen, ohne es wirklich zu sagen.
Kommt ein Mäuschen übers Häuschen, wo will’s rasten?
Papas Finger wandern mein Schienbein hoch,
eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben blaue Flecken!
(…) Komm wir heilen alle Flecken mit Papas Zauberspucke.
Papas Lippen sind warm, seine Finger weich,
mit schwarzen Haaren und hellen Nägeln mit Rillen,
kommt ein Mäuschen,
sie schieben mein Nachthemd hoch,
trippeln über meinen Bauch, kitzeln meinen Nabel,
laufen über meine Brust, krabbeln über meinen Hals,
meine Haare.
Mäusefüßchen.
(…) Was macht die Maus, wenn’s Abend wird?
Sie sucht sich ein Versteck.
Das Mäuschen krabbelt in meine Unterhose.
Es geht zwischen meinen Beinen spazieren.
(…) Papas Atem ist wie ein beginnender Sturm,
laut und schwer.
Ich winde mich unter Papas Hand.
Jetzt haben wir das Einhorn geweckt!
Papa legt meine Hand auf das Horn. Papas Hand schließt
sich um meine. Gemeinsam halten wir das Einhorn fest.“
Der Mißbrauch am Kind wird mit spielerischen Worten wiedergegeben. Der Schock über die dargestellte Tat verstärkt sich durch das langsame Begreifen beim Lesen. Ja, man würde sich diesem Begreifen gerne entziehen und die angedeuteten Bilder nicht zu Ende denken oder ihnen doch noch eine andere Bedeutung geben. Doch Winkler lässt nicht locker. Ohne Erbarmen lässt sie vor unseren Augen das Grauen immer wieder aufs Neue geschehen. Sie spielt mit der Reaktion der Leser:innen auf den Text. Das Wegschauen-Wollen bleibt eine Konstante, ein natürlicher Reflex, den sie durch eindeutige Hinweise unterwandert. Sie zwingt uns die Zeugen-Rolle auf, der ein wachsendes Unbehagen anhaftet.
Im Laufe der Handlung verwandelt sich der Erzählton, so wie auch die Protagonistin sich verändert. Die Heranwachsende beginnt zu begreifen und aufzubegehren. Sie wird sich ihrer Situation bewusst. Die Auswegslosigkeit lässt sie verzweifeln. Ihre Sprache hat längst den beschwichtigenden Märchen-Ton verloren. Das Kind denkt an den Tod als einen Ausweg.
Ich sollte einfach tot sein.
Das ist die Lösung. Für Papa, Mama und mich.
Tot sein. Damit ich nichts mehr spüre.
Tot sein. Einfach tot sein. Das ist die Lösung.
Todtraurig bin ich lange genug.
Mit dem Erwachsenwerden verändert sich der Ton weiter. Die junge Frau benennt den Mißbrauch ganz konkret. Die Sprache wird direkter. Die märchenhaft verschleiernden Bilder verschwinden und machen einer selbstzerstörerischen Sprache Platz.
Ich will nie wieder schief leben.
Ich schaue nach vorn. Nur nach vorn. Niemals zurück.
Ich trage Scheuklappen wie Pferde vor einem Karren,
ic spanne mich ein. Ich ziehe mich auf einen neuen Weg.
Nach vorn. Nach vorn. Nach vorn. Kein Ausruhen. Keine
Müdigkeit vorschützen. Nach vorn. Nach vorn. Nach vorn.
Ich gehe mir selbst voraus. Ich bin Kutscher und Pferd.
Winkler zeigt uns schonungslos, dass es für Opfer sexuellen Missbrauchs kein echtes Entkommen gibt, sogar dann nicht, wenn der Mißbrauch längst ein Ende gefunden hat.
Die Protagonistin kann sich vom Erlebten allein nicht befreien. Immer wieder werden Spuren ihrer seelischen Verletzungen sichtbar. Winklers literarische Umsetzung lässt uns die Auswirkungen schmerzhaft mitempfinden. Das Trauma überlagert alles, auch ihre Chancen auf Glück.
Winklers Roman „Siebenmeilenherz“ ist nur schwer zu ertragen. Der besondere Stil verleiht dem Erzählten eine erschütternde Intensität. Die Autorin inszeniert die komplizierte Komplexität der Emotionen des Missbrauchsopfers sprachlich virtuos. So geht Literatur!
- Autorin: Katharina Winkler
- Titel: Siebenmeilenherz
- Verlag: Matthes & Seitz Berlin
- Erschienen: März 2024
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 240 Seiten
- ISBN: 978-3751809610
Wertung: 15/15 dpt