Nach „Frauen Literatur – abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ (2021) folgt nun das zweite Sachbuch von Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert, das die Karten in der deutschsprachigen Literaturlandschaft neu mischt: „’Einige Herren sagten etwas dazu.’ Die Autorinnen der Gruppe 47“ deckt schonungslos den sexistischen Umgang mit Frauen innerhalb des berühmten literarischen Zirkels auf und regt erneut zum Umdenken an.
Im Zusammenhang mit der „Gruppe 47“ fallen für gewöhnlich Namen wie Günter Grass oder Heinrich Böll. Beide waren Teil der berühmten Schriftstellergruppe, die 1947 von Hans Werner Richter im Nachkriegsdeutschland gegründet wurde. Während ihres zwanzigjährigen Bestehens war Richter weiterhin Organisator und bestimmte, wer teilnehmen und bei den mehrtägigen Tagungen eigene Texte lesen durfte. Im Publikum befanden sich neben anderen Schriftstellern auch Journalisten (zunähst auch Martin Walser) und Literaturkritiker wie Marcel Reich-Ranicki, die nach dem Vortrag über die Texte diskutierten und (mehr oder weniger) fundierte Kritikpunkte zu eben Gehörtem von sich gaben. Wer bei den Treffen reüssierte, wurde jährlich mit einem internen Preis geehrt und dank anwesender Presse einer breiten Öffentlichkeit bekanntgemacht – die Tagungen waren also ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument der Literaturlandschaft! Doch welche Rolle spielten Frauen bei den Veranstaltungen? Welche Autorinnen wurden in die Gruppe eingeladen, lasen auf den Treffen und wie wurden ihre Texte aufgenommen? Das alles hat Nicole Seifert für ihr Buch akribisch recherchiert und auf rund 270 Seiten plus umfangreichem Anhang (erneut) so spannend dargelegt, dass es einem Krimi um nichts nachsteht.
Als Schriftstellerinnen, die an Tagungen der Gruppe teilnahmen, wurden bisher offiziell Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger erwähnt – dabei gibt es noch viele andere Autorinnen, deren Beiträge zur deutschsprachigen Literatur bisher klein geredet, vergessen oder gar nicht erst wertgeschätzt wurden. Zeit, das zu ändern! Die einzelnen Kapitel des Buches erzählen weitestgehend chronologisch von einzelnen Tagungstreffen und beschäftigen sich mit den jeweiligen Autorinnen, die bei den Veranstaltungen anwesend waren. Besprochen werden neben den bereits genannten österreichischen Autorinnen Bachmann und Aichinger im Buch Ruth Rehmann, Ingrid Bachér, Ilse Schneider-Lengyel, Barbara König, Gabriele Wohmann, Gisela Elsner, Christine Koschel, Christa Reinig, Griseldis L. Fleming, Helga M. Novak, Elisabeth Borchers, Elisabeth Plessen, Barbara Frischmuth und Renate Rasp.
Ihre von Seifert gezeichneten Porträts machen definitiv Lust, diese Autorinnen wiederzuentdecken oder überhaupt erst einmal kennenzulernen. Was allerdings schockiert, ist, wie mit ihnen umgegangen wurde: Die bloße Reduktion auf Äußerlichkeiten, das nicht ernst genommen werden der vorgetragenen Texte, das Pflegen von Vorurteilen und Klischees gegenüber schreibenden Frauen an sich. Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne den Kopf zu schütteln, oder sich erschrocken die Hand vor den Mund zu schlagen über so viel Ignoranz und Respektlosigkeit! So wurde die Autorin Elisabeth Plessen zum Beispiel bei ihrem erstmaligen Erscheinen mit den Worten gegrüßt: „Dich hat Hans Werner eingeladen? Hast du mit ihm geschlafen?“
Interessant der Einblick in den Ablauf der Tagungen: Tagsüber lesen und kritisieren (die Lesenden durften nichts zur Diskussion beitragen), abends und nachts ausgelassenes Tanzen und Feiern – hier waren Damen natürlich mehr als willkommen. Es werden wilde Abende geschildert, die eher an Klassenfahrten als an die Zusammenkunft der literarischen Elite erinnern und an denen Autorinnen sich kaum gegen Avancen der überzähligen männlichen Kollegen wehren konnten und manchmal sogar handgreiflich werden mussten. Gerade Ilse Aichinger konnte sich ihre vielen Verehrer nur schwer vom Hals schaffen. Chronist Hans Werner Richter hält diese Ereignisse spöttisch-flapsig fest – in der Realität waren solche Vorfälle sicherlich nicht für alle spaßig …
Manche Autorinnen kamen nur einmal zu den Treffen und nahmen danach Abstand. Griseldis L. Fleming verglich das Treffen mit „Gerupftwerden“ und kehrte in den 60er Jahren „kleinaeugig und mutlos nach Palermo zurück“, fühlt sich als „Lyrikleiche“ (vgl. S. 2026). Die Gedichte, die sie auf der Tagung vortrug, können im Buch nachgelesen werden.
Was im privat organisierten Kreis begann, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu Großveranstaltungen mit medialer Verbreitung in der Öffentlichkeit. Pressevertreter publizierten teilweise vernichtende und völlig unsachliche Artikel über die Vortragenden, die Äußerlichkeiten und Verhalten der Autorinnen in den Vordergrund stellten, nicht aber deren Texte. Politisches oder Experimentelles wurde rundheraus abgelehnt und fiel schnell durch, was ebenfalls einigen der Autorinnen zum Verhängnis wurde:
Nicole Seiferts neue Perspektive auf die Schriftstellergruppe und deren Wirkung auf die Literaturlandschaft bis heute ist Augen öffnend, längst überfällig und ansprechend aufgearbeitet.
Wichtige Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Trotz all der Empörung bleibt nach der Lektüre ein positives Gefühl zurück: Schließlich gibt es noch so viele Autorinnen zu entdecken …
- Autorin: Nicole Seifert
- Titel: “Einige Herren sagten etwas dazu” – Die Autorinnen der Gruppe 47
- Verlag: Kiepenheuer&Witsch
- Erschienen: 08. Februar 2024
- Einband: Hardcover mit Lesebändchen
- Seiten: 352
- ISBN: 978-3-462-00353-6
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