Größtes Verbrechen der Nachkriegszeit in Rheinland-Pfalz
Vom Kriminalamt Mainz wechselt Kommissar Rudolf Wafzig zum LKA Rheinland-Pfalz in Koblenz. Im Juni 1964 tritt er seinen Dienst an und wird, zu seinem Entsetzen, vom stellvertretenden Leiter Rudolf Schmücker gebeten, sich alte Akten im Archiv anzusehen. Der Stichtag für Naziverbrechen wurde auf den 9. Mai 1945 festgelegt, die Verjährungsfrist auf zwanzig Jahre. Besteht noch die Möglichkeit, vor Ablauf der Frist den einen oder anderen Fall aufzuklären?
Wafzig blättert eher widerwillig durch die Akten. Doch dann stößt er auf einen Fall, der ihn sein weiteres Leben lang fesseln wird. Am 1. April 1946 überfielen sieben Männer das Burgerhaus in Andernach und erschossen den Bauern Walter Windheuser sowie weitere acht Personen. Wafzig studiert die Akte und ist zunehmend fassungslos. Es gab Überlebende, weitere Zeugen und recht eindeutige Hinweise auf die Täter; zumindest auf die beiden Anführer Wladimir Inguschin und Michail Nemzow.
Wafzig wird immer wieder in aktuelle Ermittlungen eingebunden, dennoch bleibt Zeit, etliche Beteiligte von damals zu befragen. Überlebende, den damaligen Polizeichef, den Staatsanwalt. Es läuft immer wieder auf das gleiche Ergebnis hinaus: Die französische Militärpolizei hat schlampig gearbeitet, Spuren nicht konsequent verfolgt. Es war 1946. Ein Jahr nach dem Krieg. Die Deutschen waren noch immer der Feind. Da nimmt man es halt nicht so genau. Aber auch die späteren Ermittlungen der deutschen Behörden waren wenig glanzvoll. 1956 werden die Ermittlungen eingestellt. So stellt sich, rund zwanzig Jahre später, für Wafzig nicht lange die Frage nach der Identität der Täter, sondern ob er deren Spuren noch folgen, ihre aktuellen Aufenthaltsorte noch ermitteln kann?
Cold Case trifft Zeitgeschichte
Angelica Netz hat mit ihrem Krimi „Schuld ohne Sühne“ einen sehr kompakten Roman vorgelegt, der im Wesentlichen aus drei Komponenten besteht. Den Recherchen von Wafzig, dem Lebensweg von Wladimir Inguschin und einem intensiven Blick in die Zeitgeschichte, welcher die politischen Zustände im Nachkriegsdeutschland eindringlich wiedergibt.
Rudolf Wafzig ist bei seinem Dienstantritt beim LKA fünfunddreißig Jahre alt. Er ist ein ruhiger, aber gründlicher Kommissar, der das größte Verbrechen der Nachkriegszeit in Rheinland-Pfalz aufklären will. Zeugen von damals bestätigen alte Aussagen und Hinweise auf die Täter, allein ihm läuft die Zeit davon. Da sind das Damoklesschwert der Verjährung und die Frage, wie er die heutigen Aufenthaltsorte der sieben Täter überhaupt finden soll?
Wladimir Inguschin ist ein Opfer seiner Zeit. Er lebte in Saratow, wo er 1942 als Wolgadeutscher vor den Säuberungswellen Stalins floh. Die Deutschen mussten ja die Guten sein, schließlich kämpften sie gegen die Russen, gegen Stalin. Doch als er Charkow erreicht, gerät er in deutsche Zwangsarbeit und muss zusehen, wie die Deutschen seinen besten Freund Oleg erschießen. Seitdem hasst er alle Deutschen und empfindet bis zu seinem Lebensende keinerlei Reue für seine Taten. Wie es ihm nach dem Überfall auf das Burgerhaus ergangen ist; auch davon erzählt der Roman.
Deutschland nach dem Krieg. Zerstörung, Chaos und viel zu viele Menschen, die zu versorgen sind. Wladimir und Michail landen in einer ehemaligen Kaserne in Niederlahnstein, wo die sogenannten Displaced Persons notdürftig einquartiert sind. DPs, das waren vor allem Zwangs- und Fremdarbeiter sowie Kriegsgefangene, darunter zahlreiche Russen und Ukrainer. Mit Überfällen auf Bauernhöfe in der Umgebung versuchten sie, ihre Notlage aufzubessern, wobei die französische Militärpolizei meist regelmäßig wegschaute. Später folgte ein Durcheinander bei der Übertragung von Zuständigkeiten und vor allem bei der Übergabe von Unterlagen an die Deutschen. Zahlreiche Akten verblieben im Militärarchiv von Colmar.
„Schuld ohne Sühne“ ist ein kurzer, aber höchst intensiver Ausflug in die deutsche Nachkriegszeit. Facettenreich beschreibt die Autorin nicht nur ein ungemein brutales Kapitalverbrechen, sondern auch die mühsamen Ermittlungsversuche rund zwei Jahrzehnte später. Die Lebensläufe der beiden Protagonisten Wafzig und Wladimir werden einander gegenübergestellt. Dies alles vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Entwicklungen. Lesenswert!
- Autorin: Angelica Netz
- Titel: Schuld ohne Sühne
- Verlag: KBV
- Umfang: 220 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: April 2024
- ISBN: 978-3-95441-681-3
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Wertung: 12/15 dpt