Mit “Die Wut, die bleibt” hat Mareike Fallwickl 2022 einen Treffer auf der Spiegel Bestseller Liste gelandet. Mit “Und alle so still” greift sie die Idee des feministischen Romans nochmal auf und ersinnt ein Setting, das in ihrer Ausführung letztendlich dystopische Ausmaße annimmt: Was würde passieren, wenn Frauen überall plötzlich und gleichzeitig ihre Arbeit niederlegen würden? Still und leise schaffen sie einen gewaltlosen Protest und treten in den Fürsorgearbeits-Streik. Aber ist dieser Protest in seiner Quintessenz wirklich gewaltlos, wenn niemand anderes diese Aufgaben übernimmt? Was geschieht in einer Welt, in der sich niemand mehr kümmert? In der viele (besonders “systemrelevante” Personengruppen) einfach nicht mehr zur Arbeit gehen? Wie reagiert die Politik darauf?
Mareike Fallwickl schiebt nicht nur dem Patriarchat, in dem besonders Frauenkörper ständig verfügbar sein müssen, den schwarzen Peter zu – sie prangert in diesem Buch auch das zutiefst kapitalistische System an, in dem wir alle leben. Ein System, in dem Arbeit nicht gerecht entlohnt wird, in dem es hauptsächlich um den Profit einzelner und die Ausbeutung vieler geht – ganz besonders in den sogenannten “Care-Berufen”.
Fallwickl demonstriert dies plakativ am Beispiel eines Krankenhauses als in sich geschlossenes System und der Ausbeutung besonders migrantischer Menschen im Niedriglohnsektor. Dem gegenüber stellt sie die Influencerin und Erbin eines Wellnesshotels – wobei sie hierbei, für mein Empfinden, ein wenig an Biss verliert. Die Darstellung der seelischen Instabilität der Influencerin, Zustände im Krankenhaus und die Gruppendynamiken bestimmter Männer kommen dafür umso provokanter um die Ecke. Provokant nicht, weil sie überzeichnet werden – im Gegenteil. Fallwickl beschreibt diese Zustände ungeschönt und wie sie sind und das so gut, dass ich das Buch teilweise beiseite legen musste, um meine eigenen Emotionen vom Gelesenen zu trennen.
Und so gut dies auch beschrieben wird, bleibt diese Idee des kollektiven Niederlegens (der Körper und der Arbeit) auch in diesem Buch nur eine Utopie, die mir persönlich an manchen Stellen zu flach blieb. Wie die Protagonistinnen Elin, Ruth, Iris und Alma in Beziehung zueinander stehen sollten blieb für mich unglaubwürdig und bot lediglich den Wert, den Plot zusammenzuhalten (was für einen Grund hätte Elin sonst gehabt, abzureisen?). Und auch die Ängste, die damit einhergehen müssen, alles Gewohnte zu verlassen, alles auf eine Karte zu setzen, ohne Gewissheit zu haben, wurden kaum beschrieben – wobei das unter Umständen auch einen gewollten Spielraum für Interpretation lässt. Warum machen die Frauen das? Wie erschöpft müssen sie sein, um diesen drastischen Schritt zu gehen?
Garniert wird das Ganze mit wortwörtlichen Zitaten der “Gebärmutter”, die eine radikalfeministische Haltung an den Tag legt und den aktuellen Diskurs um das Recht auf den eigenen Körper zusammenfasst, mit den Äußerungen einer “Pistole” als Gegenpol, und einer eher sachlich gehaltenen “Berichterstattung” über aktuelle Themen und Konzepte, wie z. B. dem “Prisoners of love”-Effekt, der dafür sorgt, dass Menschen in sozialen Berufen ständig und immer wieder über ihre eigenen Belastungsgrenzen gehen, damit “ihre” Patient*innen, Betreuten, Klient*innen, Kinder etc. versorgt sind ….
“Sie wollen es besitzen, es beherrschen, und weil ihre Schwänze zu kurz sind, kommen sie mit Papier und Stift, mit Gesetzen und Regeln. Oder mit Religion. Ich bin die Gebärmutter, mich verbinden sie mit Weiblichkeit. Über alles, was mit mir geschieht, entscheiden Männer.”
Da mir das teilweise den Einstieg ins Buch erschwert hat, soll nicht unerwähnt bleiben:
Mareike Fallwickls Schreibstil ist besonders. Nicht gefällig, nicht weichgespült, aber immer tiefgründig und an mancher Stelle wunderschön.
“Aus dem Spiegel schaut ihn ein Fremder an. Er würde ihn gerne umarmen.”
Ende letzten Jahres durfte ich an einer Leserunde zu “Diamantnächte” von Hilde Rod-Larsen teilnehmen, die Mareike Fallwickl organisiert hat und an der sie auch teilgenommen hat. Noch nie zuvor habe ich mich mit wildfremden Menschen so intensiv und so tiefgehend über ein Buch austauschen können. Ich glaube, dass “Und alle so still” eben so ein Buch ist, das man im Idealfall nicht alleine, sondern in einer größeren Runde lesen sollte. Mareike Fallwickl schreibt nicht nur ein offenes Ende (das für mich persönlich recht unbequem war), ihr Buch bietet auch ansonsten unendlich viel Interpretationsspielraum, die Möglichkeit eigene Erfahrungen und Denkmuster zu reflektieren, sich Gedanken zu machen und sich auszutauschen.
“Und alle so still” ist in erster Linie kein abgeschlossener Unterhaltungsroman. Er ist eine Idee und eine mögliche Vision auf die Zukunft. Auf ein patriarchales Endzeitszenario. Ob das dann besser ist? Auch darüber lässt sich streiten.
- Autor: Mareike Fallwickl
- Titel: Und alle so still
- Verlag: Rowohlt
- Erschienen: 2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 368
- ISBN: 978-3-498-00298-5
- Sonstige Informationen:
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 11/15 dpt