Wir befinden uns auf einem abgelegenen Hochplateau in Polen, mitten im Winter. Von den wenigen Häusern der Siedlung sind zu dieser Jahreszeit noch weniger bewohnt. Janina ist wie üblich eine der Überwinternden. Eines Nachts wird sie von ihrem Nachbarn Matoga aus dem Schlaf gerissen: Er hat ihren Nachbarn Bigfoot tot aufgefunden. Und es wird nicht bei dem einen Toten bleiben.
Unsere Erzählerin Janina scheint sich nicht aus der Angelegenheit heraushalten zu können. Entweder sie findet einen weiteren Toten, oder sie bindet jeder Person, die es hören will, ihre Theorien zu den Geschehnissen auf die Nase. Janina ist eine ältere, schrullige Frau, die sehr ungern mit ihrem Namen angesprochen wird und auch andere lieber mit, ihrer Meinung nach, passenderen Namen anspricht.
Sie beschäftigt sich am liebsten mit Astrologie und ist der Meinung, absolut alles damit erklären zu können. Außerdem ist sie leidenschaftliche Tierschützerin. Ihre Meinungen und Theorien legt sie uns Leser*innen, ihren Freund*innen, Nachbar*innen und der Polizei gerne ausschweifend dar, wobei es ihr ganz egal ist, ob sie ihr Publikum schon längst verloren hat.
In ihren ausschweifenden Reden vollführt sie oft einen Balanceakt zwischen interessanten Einsichten und sinnlosem Gefasel. Ihre Lieblingsthemen sind ihre Theorie, dass die Toten die Rache der Tiere sind und, natürlich, die Astrologie. Dennoch hat es mir immer Spaß gemacht, ihren Gedankengängen zu folgen und mich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Für mich liegt das besonders an zwei Dingen: Erstens, dass wir es hier mit einer ganz klassischen unzuverlässigen Erzählerin zu tun haben. Wir werden praktisch dazu gezwungen, zu hinterfragen, was sie uns erzählt. Und zweitens, dass Janina eine ganz eigene Stimme hat: trocken, schonungslos und zynisch mit einer überraschenden Frische. Auch verlangen ihre Willensstärke, Unverfrorenheit und Selbstsicherheit einem trotz der etwas anstrengenden Art immer wieder Respekt ab.
Insgesamt überzeugt Olga Tokarczuk mit ihrem Schreibstil. Die stimmungsvolle Atmosphäre, das Lebensgefühl auf dem abgeschiedenen Hochplateau, das irgendwie eher nebensächliche, aber doch immer präsente Mysterium der Tode. Und nicht zuletzt die interessanten und skurrilen Charaktere, wie zum Beispiel der Zahnarzt, der zu viel Alkohol trinkt und nur im Sommer und dann auch immer draußen seine Behandlungen anbietet.
“Man kann hier im Winter eigentlich nichts tun, die Menschen verlieren sogar an ihrer Gesundheit das Interesse, außerdem ist es dunkel und der Zahnarzt sieht schlecht.”
“Der Gesang der Fledermäuse” von Olga Tokarczuk ist ein Krimi, der kräftig mit einer Portion Feminismus und Tierethik gewürzt ist, und das auf eine ganz eigene, unperfekte Weise, die besonders zum Nachdenken anregt. Von mir eine klare Leseempfehlung.
Wertung: 12/15 dpt
- Autor: Olga Tokarczuk
- Titel: Gesang der Fledermäuse
- Originaltitel: Prowadź swój pług przez kości umarłych
- Übersetzer: Doreen Daume
- Verlag: Kampa Verlag
- Erschienen: Juli 2020
- Seiten: 320
- ISBN: 978-3311150039
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