Man wünschte, es wäre Satire
Stefan und Theresa studierten in Münster Germanistik und lebten zusammen in einer Wohngemeinschaft. Sie teilten Freud und Leid, waren Familie füreinander. Bis Theresa nach dem Tod ihres Vaters ohne jeglichen Abschied in ihr Heimatdorf Schütte nach Brandenburg zurückkehrte und die Germanistik sausen ließ. Stattdessen absolvierte sie ein Fernstudium der Agrarwirtschaft und übernahm die Führung des Milchbauernhofs ihrer Familie.
Stefan hingegen beendete sein Germanistik-Studium, promovierte und machte als Journalist Karriere. Er gründete das progressive Magazin HEFTIG und wurde schließlich stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Kultur bei DER BOTE, einer der renommiertesten Tageszeitungen Deutschlands.
Zwanzig Jahre sind ohne jeglichen Kontakt zwischen einst besten Freunden vergangen, bevor sie sich zufällig in Hamburg in der U-Bahn treffen. Das Wiedersehen gerät zum Desaster, da es in ihrer beider Welten kaum gemeinsame Themen und übereinstimmenden Ansichten gibt. Gerade deswegen beschließen sie, sich regelmäßig mit WhatsApp Nachrichten und E-Mails auszutauschen. Ein hoffnungsvoller Ansatz, um Alltag und Erfahrungen zweier gänzlich unterschiedlicher Lebenswelten in Stadt und Land zusammenzubringen?
Ihr wiederbelebter Kontakt wird zum Dauerstreit über Landwirtschaftspolitik, Wokeness, Klimaschutz, Gleichberechtigung, Diversität, Medienkultur und Rechtsextremismus. Stefan versteht seinen Beruf als Aktivismus für den Klimaschutz und für Gendergerechtigkeit. Er unterstützt Klimaaktivist:innen und etabliert in seinen Texten gendersensible Sprache. Theresa sieht sich dagegen als unmittelbar von der Klimakatastrophe Betroffene, engagiert sich für eine klimafreundliche und zugleich existenzsichernde Landwirtschaft. Um diese Arbeit fühlt sie sich von der Politik betrogen. Fridays for Future hält sie für realitätsferne Kinder, Gendersternchen für irrelevant in Bezug auf Gleichberechtigung.
Immer wieder zoffen und versöhnen sie sich. Entweder weil doch noch ein winziger gemeinsamer Nenner gefunden wird. Oder einfach um der alten Zeiten am Küchentisch willen. Nach einer weiteren persönlichen Begegnung wendet sich das Blatt und führt zu Entwicklungen, die in persönlichen Katastrophen münden. Pure Verzweiflung hält den arg strapazierten Rest der Verbindung aufrecht. Bis der selbstgewählte Abgrund, in den beide schauen, zurückblickt.
13:33 Uhr, Stefan per WhatsApp: Dir wäre es wahrscheinlich am liebsten, wenn die Ukraine kapituliert. Weiße Flagge hoch, Fall erledigt. Damit alles weitergehen kann, wie zuvor. Ist ja dein höchstes Anliegen. S. 160
Diskurs- und Kommunikationskultur aus der Hölle
Einen Roman wie „Zwischen Welten“ nennt man einen Briefroman und Juli Zeh und Simon Urban haben sich auf diese Erzählweise beschränkt. Persönliche Gespräche und Telefonate kommen indirekt in E-Mails und WhatsApp-(später Telegram-) Nachrichten vor. Es überrascht nicht, dass der Austausch über Messanger an wirklicher Interaktion einiges zu wünschen übriglässt. So direkt den E-Mails gegenübergestellt, wird jedoch umso offensichtlicher, wie wenig die unreflektiert hingetippten Kurznachrichten für eine Kommunikation taugen.
Die Kommunikation über E-Mails hingegen erinnert an klassische Brieffreundschaften und ermöglicht einen intensiveren und tieferen Austausch. Trotzdem fällt es Theresa und Stefan oft schwer, auf den anderen wirklich einzugehen. Zum Thema Klimakatastrophe haben die beiden viel Gesprächsstoff, weil Stefan für seine Zeitung eine Spezialausgabe zum Thema plant. Und Theresa aufgrund der andauernden Trockenheit in Brandenburg um ihre Ernte fürchtet. Doch anstatt gemeinsam zu überlegen, wie beide ihre Standpunkte zusammenbringen können, arbeitet Stefan lieber mit Klimaaktivist:innen. Theresa unterstellt hingegen, der Sonderausgabe würde der Bezug zur Realität fehlen. Und überhaupt soll ihr niemand damit kommen, dass Milchkühe Methan produzieren, so lange Kreuzfahrtschiffe über die Meere schippern. Woraufhin Stefan ihr Whataboutism erklärt, anstatt auf das Thema Existenzbedrohung für die Landwirtschaft einzugehen.
Menschen, Medien und Miseren
Lieber Stefan, ja, du hast recht, unsere Mails sind erkenntnisreich. Aber für mich sind sie manchmal eher eine Schocktherapie, nur ohne Therapie. Stefan, S. 127, Theresa S. 129
Zwischen den gesellschaftlichen und politischen Diskussionen erzählen beide aus dem Alltag in der Redaktion und im Stall. Von Auseinandersetzungen mit Kolleg:innen, aus dem Familienalltag, über Gedanken, Ängste, Träume und Entscheidungen. Im weiteren Verlauf der Brief- und Nachrichtenwechsel gehen Diskussionsthemen und Szenen aus dem Leben immer mehr ineinander über. Stefans Vorgesetzter und bewunderter Mentor stolpert über einen schlechten Scherz zulasten der Schwarzen Leiterin der Online-Redaktion. Ein Video des Vorfalls wird geleakt und der folgende Shitstorm katapultiert Sota ins Abseits.
Theresa erarbeitet mit Landwirt:innen in der Zukunftskommission Vorschläge für eine nachhaltige Landwirtschaft. Sie fährt zum vereinbarten Termin mit dem Bundesumweltminister nach Berlin – und wird abgewiesen. In Brandenburg wird aufgrund der Schweinepest verboten, die Ernte einzufahren. Dazu kommen Hitzebrände, Brandstiftung und Selbstmord.
Fazit
Die fiktive Realität in „Zwischen Welten“ verzerrt sich immer mehr. Der Austausch zwischen diesen gefühlt unendlich weit voneinander entfernten Welten, wirkt am Anfang wie ein Hoffnungsschimmer. Er verwandelt sich allerdings in eine schwarze Satire und Groteske. Harte Konfrontationen werden zu toxischen Aggressionen, persönliche Sticheleien zu gezielten Schlägen unter die Gürtellinie. Grundsätzliche Übereinstimmungen erweisen sich nicht als tragfähig genug, um der gedachten Brücke als Fundament zu dienen. Stefan und Theresa nehmen immer neue Anläufe zueinander zu finden. Besteht noch Hoffnung auf gemeinsame Grundlagen? Für die Protagonist:innen? Für woke Weltverbessernde in den Großstädten und hart für die Existenz arbeitende Menschen vom Land? Und für all diejenigen, die sich irgendwo dazwischen befinden?
„Zwischen Welten“ blickt auf ein Netz aus Rissen, das unsere Gesellschaft auseinanderzieht. Mancher Sachbezug hätte etwas mehr Tiefe und Hintergrund vertragen, manches satirische Bild ein wenig Feinschliff. Insgesamt jedoch präsentieren Juli Zeh und Simon Urban einen entlarvenden, spannenden Roman über Menschen, die aufeinander zugehen wollen und dennoch den selbstgewählten Zwängen erliegen. Satirisch überzeichnet ist dieser Roman sicherlich. Er hat jedoch genügend Realitätsbezug, dass einem das Lachen im Hals stecken und Erschütterung zurückbleiben.
- Autor: Juli Zeh, Simon Urban
- Titel: Zwischen Welten
- Verlag: Luchterhand Verlag
- Erschienen: 01/2023
- Einband: Hardcover
- Seiten: 448
- ISBN: 978-3-630-87741-9
- Sonstige Informationen:
- Produktseite beim Verlag
Wertung: 12/15 dpt