Leben auf den Prüfstand
Die Story erscheint banal. Ein Klassentreffen bringt alles ins Rollen. Die von ihrem kleinbürgerlichen Leben frustrierte Eva begegnet ihrer ehemaligen Mitschülerin Agnès. Diese scheint alles zu verkörpern, was Eva in ihrem Leben nicht erreicht hat: Beruflichen Erfolg, Weltgewandheit, finanzielle Unabhängigkeit, Attraktivität. Für Eva wird die Freundschaft mit Agnès zum Ausgangspunkt, gnadenlos Bilanz zu ziehen und einen Neuanfang für sich zu ersehnen. Dass dabei ihre Ehe in eine Krise gerät, sie selbst die eine oder andere dumme Entscheidung trifft, auch das ist irgendwie vorhersehbar und passt ins Muster eines solchen Romanplots.
Doch von diesem Anschein sollte man sich nicht täuschen lassen. Was Martina Berscheid aus dieser fast alltäglichen Story entwickelt ist ein wundervoller, lebensbejahender, kluger und sprachlich absolut gelungener Roman, der mehr als eine Überraschung bereit hält.
Mit Eva steht eine Protagonistin mit großem Identifikationspotential im Zentrum. Berscheid zeichnet keine Idealfigur. Eva ist eine wie du und ich. Das Leben hat ihr die üblichen Enttäuschungen zugefügt. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr im Laufe der Jahre abhanden gekommen. Die Unzufriedheit lässt sie allmählich verbittern.
Mit viel Finesse widmet sich Berscheid auch der Dorfkulisse, in deren trügerischer Wohlstandsidylle die Protagonistin feststeckt. Geschickt karikiert die Autorin die tradierten Strukturen, die die Enge der Gemeinschaft definieren.
Berscheid lässt der Hauptfigur viel Raum, um sich selbst wiederzufinden. Mehr als einmal schüttelt sie dabei die Erwartungshaltung ihrer Leserschaft gründlich durch. Nie lässt sich die Autorin auf gängige Klischees ein. Absolut stilsicher navigiert sie ihren Entwicklungsroman am Kitsch vorbei. Eva befreit sich geradezu von solchen vorgefertigten Traumbildern und gängigen Rollenklischees, um ihre Unabhängigkeit in einer selbst geschaffenen Realität zu gründen.
Berscheid entwickelt aus einer scheinbar vorhersehbaren Plotidee eine Story, die mit einigen überraschenden Wendungen durchaus für Spannung sorgt. Mit phantastischem Sprachgefühl begleitet sie die psychologische Entwicklung ihrer Figuren. Überhaupt ist es Berscheids Sprache, die den Roman weit über jedes Mittelmaß hinaushebt. Ihr unverwechselbarer Stil macht die Lektüre zum Genuß.
Große Leseempfehlung!
- Autorin: Martina Berscheid
- Titel: Die Klassenkameradin
- Verlag: Edition Schaumberg
- Erschienen: September 2023
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 386 Seiten
- ISBN: 978-3910306066
Wertung: 13/15 dpt