Viktor Gallandi – Kaspar (Buch)


Dytopie? Roadstory? Groteske? Der Roman „Kaspar“ von Victor Gallandi ist alles davon. Und irgendwie auch noch mehr.

Bereits das Setting ist bizarr: Ein einsames Zimmer in einer Art Raumstation, umgeben von einer außerirdisch anmutenden Mondlandschaft. Neben dem jugendlichen Protagnisten Kaspar ist nur ein Roboter anwesend, der Viech genannt wird und den Jugendlichen versorgt, stumm und emotionslos. Ist Kaspar ein Patient? Ist er ein Gefangener? Wie kommt dort hin? Wieso ist er dort? Wo ist dieses dort überhaupt? Mit jedem weiteren Satz, den Gallandi hinzufügt, werden mehr Fragen als Antworten aufgeworfen.

Ich bin in diesem Zimmer, seit, sagen wir, einigen Wochen. Das Licht im Zimmer ist auf eine Weise diffus, dass man nicht richtig weiß, ob es hell ist oder dunkel. Alle Dinge sind darin zu erkennen, wenn auch nicht in ihrer eigentlichen Form.

Seite 7

Die eigentliche Handlung entsteht durch den Erinnerungsbericht des sechzehnjährigen Kaspar. Inmitten einer dystopischen Szenerie, in der alle zivilisatorischen Strukturen unaufhaltsam dem Verfall preisgegeben sind, ohne dass man dafür je eine Ursache erfährt, sucht der obdachlos gewordene Jugendliche einen Weg, um zu überleben. Nachdem alle Schulen geschlossen wurden, wird er als Praktikant der mysteriösen Firma AExego eingestellt und mit der Aufgabe betraut, einen abtrünnigen Mitarbeiter namens Darz ausfindig zu machen. Kaspar erhält einen Firmenwagen, mit dem er auf einer Autobahn, die nur Fahrspuren in eine Richtung besitzt, durch immer öder werdende Landschaften rast. Eine kafkaeske Odysee beginnt, in deren Verlauf es zu zahlreichen Begegnungen kommt. Alle Personen und Instititionen erscheinen dabei wie Zerrbilder jenseits jeder vertrauten Realität. Die Zustände, in die Kaspar gerät, verschlimmern sich mit jeder weiteren Episode.

Gallandi spielt mit Mehrdeutigkeiten, die Auflösung erscheint nah und bleibt doch immer unerreichbar hinter dem Ungesagten verborgen. Denn Kaspar selbt, auf dessen Angaben die Handlung beruht, ist ein unzuverlässiger Erzähler, dessen Wahrnehmung nicht zu trauen ist.

(…) ich bin eine Angstmaschine in ihrer selbst gemachten Dunkelheit. Oder eine Nebelmaschine in ihrem selbstgemachten Nebel? Wer weiß.

Seite 97

So folgt das Geschehen einer grotesken in sich selbst geschlossenen albtraumhaften Logik. Die Leidensgeschichte Kaspars erinnert an eine wilde Achterbahnfahrt, die ihn und alle, die ihm folgen, in düsterer Abwärtsspirale mitreißt.

Aus diesem Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion zieht der Roman seine Energie. Jedes einzelne Wort ist poetisch perfekt abgewogen bevor es zum Einsatz kommt. Gallandi jongliert brilliant mit allen ihm zur Verfügung stehenden Stilmitteln. Er füttert seinen Plot mit Anspielungen, Verweisen und Symbolen und erzeugt so in den Köpfen seiner Leser:innen einen gigantischen Resonanzraum. Der Roman ist derart komplex, dass einem beim Rezensieren fast die Etiketten ausgehen, um das Gelesene in übersichtliche Kategorien zu sortieren. Und gerade durch diese Vielfalt lädt er mehr als alles andere dazu ein, sich an der Ausdeutung des Gelesenen zu beteiligen.

Dass trotz aller Abstraktionen nie der Bezug zum Menschen Kaspar verloren geht, der mit seinem Leiden und Ringen um Mitgefühl immer wieder in den Mittelpunkt gerät, liegt auch an der humorvollen Selbstironie, mit der Kaspar seine tragische Situation beschreibt.

Mehr noch: Alles Geschehen fällt immer auf Kaspar zurück. Er ist das Zentrum, um das alle Ereignisse kreisen. Das Zentrum, in dem alle Ereignisse kreisen. Der einzige Fixpunkt in einer um ihn herum verlöschenden Welt. In dem Maße, in dem seine Kraft schwindet, nimmt auch das Tempo der Reise ab. Als seine Sprache versiegt, endet auch die Geschichte.

Die zahlreichen unbeantwortet bleibenden existentiellen Fragen, die der Autor an seine Leser:innen richtet, verleihen dem Text eine besondere philosophische Tiefe.

Diesem sprachlich außergewöhnlich inszenierten Roman gebührt eine große Leseempfehlung.

“Kaspar” stand als einer von zehn Finalisten auf der Hotlist 2023.

  • Autor: Viktor Gallandi
  • Titel: Kaspar
  • Verlag: Karl Rauch Verlag
  • Erschienen: Juli 2023
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 448 Seiten
  • ISBN: 978-3792002810

 


Wertung: 14/15 dpt

 


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