Ein Debüt, das es in sich hat. Es beginnt mit einem brutalen Übergriff, der in einem tödlichen Kampf mündet. Ein „er“ greift eine „sie“ an, diese wehrt sich. Und dann der erste Bruch mit der Realität – war das alles nur geträumt?
Bereits auf den ersten Seiten stiftet die Autorin bewusst Verwirrung, so dass die Unsicherheit der Protagonistin zu der der Leser:innen wird. Die Realitätsbrüche sind Programm. Sie sind das Muster des Romans, der zusätzlich mit wechselnden Erzählstimmen aufwartet. Mal wird die Handlung aus der Perspektive des Angreifers berichtet, um dann wieder den Blick der weiblichen Hauptfigur anzunehmen, mal auktorial erzählt, mal aus der Ich-Perspektive. Das ist für die Leser:innen herausfordernd und verwirrend, erzeugt aber – sobald man sich darauf einlässt – einen starken Sog.
Prantl blickt in den Kopf ihrer Protagonistin Eva. Die Handlung ist geprägt durch die psychische Störung einer Frau, die zugleich mehrere sich bekämpfende Identitäten in sich trägt. Das klaustrophobische Setting spiegelt die innere Gefangenheit der Hauptfigur und lässt von Beginn an kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass es zu keinem guten Ende kommen kann.
Sprachlich beharrend, manisch um die immer gleichen Bilder kreisend, strapaziert Prantl unser Durchhalteverhaltevermögen. Ihre Schreibe ist absolut unbarmherzig und brutal. Sie gönnt uns nur wenige lichte Augenblicke, in denen Evas Wahnsinn pausiert. Flüchtige Momente des Glücks, die die Hoffnung nähren, Eva könne eine Chance bekommen. Doch die zarten Bilder, die die Autorin für diese seltenen Szenen entwirft, beginnen bereits in dem Moment am Rand zu zerbröckeln, in dem sie aufs Papier gebracht werden. Die Erzählung folgt kompromisslos dem selbstzerstörerrischen Ich-Bild Evas.
Prantl nimmt zu hundert Prozent die Sicht der Betroffenen ein. Sie schlüpft in deren Kopf und nimmt uns mit. Die Lesenden müssen sich die wahre Realität selbst erschließen aus der verzerrten Wahrnehmung Evas.
Die Vorgehensweise erinnert an die berührende Darstellung einer psychisch Erkrankten in Simone Schaberts „Rosa in Grau“. Nur mit dem Unterschied, dass Prantl jede Zärtlichkeit im Keim ersticken lässt durch die autoaggressiven Energien, die die Ängste der Protagonistin auslösen.
„Glas“ ist kein „schöner“ Roman, kein Wohlfühlbuch. Er ist ein Horrortrip ohne Ausgang. Ein gelungenes literarisches Experiment, das uns eine Welt „gläsern“ macht, die sonst geschlossen bliebe. Ein außergewöhnlicher Roman für eine Zielgruppe, die das Besondere abseits des Mainstream sucht und bei „Glas“ definitv fündig werden wird.
- Autorin: Verena Prantl
- Titel: Glas
- Verlag: Septime Verlag
- Erschienen: Oktober 2023
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 216 Seiten
- ISBN: 978-3991200277
Wertung: 12/15 dpt