Aufhebung der Rassentrennung führt zum Aufstand
Das Schulsystem in Boston soll schwarze Schüler systematisch benachteiligt haben, woraufhin ein wegweisendes Gerichtsureilt hinweist. Es kommt zur Aufhebung der Rassentrennung, ab dem 12. September 1974 sollen schwarze Schüler an weißen Schulen unterrichtet werden und umgekehrt. Eigene Bustransfers sollen die Hin- und Rückfahrt der Schüler sichern. In knapp drei Monaten soll es losgehen. Im Stadtteil Commonwealth, in dem irisch stämmige Amerikaner leben, versteht man die Welt nicht mehr, zumal die Kinder jener Politiker, die die Gesetzesänderung beschlossen haben, selbstredend in ihren vornehmen Vierteln nicht betroffen sind. Demonstrationen müssen her, man will sich mit allen Kräften wehren, schon bald hängen brennende Puppen an Laternenpfählen, rassistische Parolen gehören lautstark zur Tagesordnung.
„Ich hab keine Angst vor der Roxbury High, Ma. Ihr Eltern macht da einen Albtraum draus, nicht wir. Und geht’s gut.“
„Zieh einen BH an.“
„Ich kann jederzeit einen BH anziehen. Kannst du aufhören, ein Arschloch zu sein?
Mary Pat Fenessy, 42, lebt mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Jules in Southie (South Boston) und lebt desillusioniert vor sich hin. Sie ist Krankenhauspflegerin, arbeitet für einen kargen Lohn, der kaum zum Leben reicht. Wohl aber für Zigaretten, Alkohol und Fertigessen; elementare Dinge, die ihr Leben prägen. Einen Sohn hat sie an die Drogen verloren, zwei Ex-Männer haben sie verlassen. Jules ist die und das Einzige was ihrem Leben Sinn gibt. Diese will sich abends mit Freunden treffen, kehrt jedoch bis zum nächsten Morgen nicht zurück. An ihrem Arbeitsplatz erfährt Mary Pat, dass sich ihre schwarze Kollegin Calliope „Dreamy“ Williamson krankgemeldet hat. Das gab es noch nie. Soweit weiße und schwarze Frauen überhaupt miteinander befreundet sein können, so gilt dies für die beiden. Man begegnet sich freundlich und respektvoll, mehr geht nicht. Dann erfährt Mary Pat,dass in der vergangenen Nacht, der zwanzigjährige August an der U-Bahn-Station Columbia Park zu Tode kam. Auggie ist der Sohn von Dreamy und wurde offenbar von vier weißen Jugendlichen in den Tod getrieben.
„Und sie bleiben dabei.“
„Hört sich nach Bockmist an.“
„Wieso?“
„Die sind doch hinüber. Saufen, kiffen und alles?“
„Ja.“
„Aber alle wissen die Uhrzeit.“
„Auf die Minute. Das hat mich auch gestört.
Mary Pat sorgt sich um ihre weiterhin verschwundene Tochter und stellt Fragen. Commonwealth wird von dem Gangsterboss Marty Butler beherrscht, dem man besser nicht auf die Füße tritt. Zur Rede gestellt, bietet er Mary Pat viel Geld, damit sie Boston verlässt und stellt am Ende des Gesprächs klar, dass es keine weiteren Fragen zu Jules geben dürfe. Der umstrittene Bustransfer der Schüler und der Mord an Auggie beherrschen die Schlagzeilen und die damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit ist pures Gift für seine Geschäfte. Mary Pat beginnt zu ahnen, dass man ihr das Wertvollste im Leben genommen hat, was sich nach einer Befragung durch die Detectives Coyne und Pritchard von der Mordkommission des Boston Police Department bestätigt. Eines wurde allerdings übersehen: Mit Mary Pat legt sich niemand ungestraft an.
Der letzte Roman von Dennis Lehane?
Dennis Lehane legt mit „Sekunden der Gnade“ einen ebenso fulminanten wie persönlichen Roman vor, der womöglich sein letzter gewesen sein könnte, denn Lehane, 58, dem wir grandiose Werke wie „Mystic River“ und „Shutter Island“ zu verdanken haben, hat erstmals keinen Autorenvertrag mehr; muss also nicht mehr zwingend liefern. „Sekunden der Gnade“ ist ein persönliches Werk, in dem er sich mit der Aufhebung der Rassentrennung an öffentlichen Highschools beschäftigt, welche 1974 in Boston zu großen Unruhen führte. Die damaligen, von massiven rassistischen Parolen begleiteten Proteste, hat Lehane als neunjähriger Junge selber erlebt, nachdem sein Vater bei einer Autofahrt falsch abbog und mitten in die Proteste hineingeriet. Es war ihm ein großes Bedürfnis diese bedrückenden Kindheitserlebnisse zu verarbeiten, wobei das zentrale Thema des Rassismus noch heute brandaktuell ist.
Commonwealth ist ein irischer Arbeiterstadtteil, in dem Gangster rund um Marty Butler das Sagen haben. Ohne sie läuft nichts, selbst die Polizei scheint machtlos. Detective Michael „Bobby“ Coyne, der zweite Protagonist neben Mary Pat, ist zwar gewillt, aber Butlers Beziehungen reichen weit in Politik und Polizei hinein. Man regelt zudem die Angelegenheiten in Southie unter sich, wer hier nicht hingehört muss mit Konsequenzen rechnen, wenngleich nicht immer derart final wie der getötete Auggie.
„Wieso denn?“
„Keine Ahnung.“
„Deine Haare? Dein Gesicht? Deine Titten? Dein … was?“
„Mein Hass.
Meisterhaft zeichnet Lehane das Leben in dem heruntergekommenen Stadtteil, den auf dem eigenen Versagen beruhenden Rassismus, denn schon immer schlugen die vermeintlich Benachteiligten auf jene ein, denen es noch schlechter geht oder die halt einfach nur eine andere Hautfarbe haben. Mary Pat, die mit Rassenhass aufgewachsen ist, erkennt ihre eigene Schuld, da sie diesen an ihre Tochter weitergegeben hat und sich somit für den Mord an Auggie mitverantwortlich fühlt. Jetzt, wenngleich aus ganz anderen Gründen, hat es Jules selbst erwischt und Mary Pat will zumindest einen Teil jener Schuld, die sie auf sich geladen hat, abtragen. Mit allen Konsequenzen und Szenen, die jedem Actionfilm zur Ehre gereichen.
Sollte es tatsächlich der letzte Roman von Dennis Lehane gewesen sein, so verabschiedet er sich mit einem großen Feuerwerk. Ein packender Kriminalfall, Rassismus vor realem zeithistorischem Hintergrund, eine Mutter auf Rachefeldzug und dies alles kombiniert aus nachdenklich stimmenden Zeilen, knallharter Gewalt und mitunter bitterbösem Humor. Bitte nicht zu lange mit der Verfilmung warten!
- Autor: Dennis Lehane
- Titel: Sekunden der Gnade
- Originaltitel: Small Mercies. Aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch
- Verlag: Diogenes
- Umfang: 400 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: August 2023
- ISBN: 978-3-257-07258-7
Wertung: 13/15 dpt