Historisch, magisch, voller Theaterzauber und ein Fest für alle Hobby-Ornitholog*innen!
Im elisabethianischen London des Jahres 1601 arbeitet Shay als Botenmädchen und Falknerin. Eigentlich gehört sie aber zu den Bewohnern von Birdland, dem Marschland vor London, die Vögel als ihre Götter ansehen und durch diese wahrsagen können. Als Shay bei einer Flucht über die Dächer Londons, weil sie gefangene Vögel befreit hat, Nonesuch kennenlernt, kommt sie in Berührung mit dem Blackfriars-Theater und schließt sich diesem an. Nonesuch und sie verlieben sich ineinader und gründen gemeinsam das Geistertheater, in dem Shay auch ihre Fähigkeiten als Wahrsagerin einsetzt. Bis Königin Elizabeth von Shay erfährt, sie ihr wahrsagen muss und damit eine Verkettung ungeahnter Umstände in Gang setzt …
So weit die inhaltlichen Informationen, die auch auf dem Klappentext zu finden sind. Auch wenn man denkt, dass allein damit schon ein Buch gefüllt werden könnte, entwickelt die Geschichte sich noch viel weiter und in Richtungen, die zumindest ich nicht vorhersehen konnte.
Mat Osman erschafft mit den beiden Protagonist*innen besondere Charaktere mit Ecken und Kanten, die sich moralisch nicht immer korrekt verhalten, Fehler haben und machen, und die man trotzdem schnell ins Herz schließt.
Shay zum Beispiel ist das Gegenteil der normschönen Heldin – sie trägt eine ausgefallene Frisur, tritt häufig als Junge auf (inklusive abgebundener Brust), und wird insgesamt nicht als besonders hübsch beschrieben. Sie versucht meistens unaufällig und im Schatten zu bleiben und findet erst im Geistertheater ihre Rolle im Rampenlicht. Ansonsten verhält sie sich häufig egoistisch und impulsiv, macht Fehler und hat ihre Gefühle und ihre Wut nicht immer im Griff. Alles keine Eigenschaften der klassischen Heldin und trotzdem war sie für mich letztendlich genau das.
Bei Nonesuch hingegen ist der Name Programm: nichts dergleichen, keiner wie er. Nonesuch lebt das Theater und reißt nicht nur Shay, sondern auch mich als Leserin, mit in diese Welt. Er und seine Blackfriar Boys sind die tragischen Popstars des Londons um 1601. Immer wieder klingt an, dass sie dafür einige Opfer bringen müssen. Wie sehr sich Nonesuch tatsächlich in seinen Rollen verliert und wie tief er letztendlich fällt, wird aber erst zum Schluss deutlich …
“Wem galt seine Loyalität? Nur dem Drama dieses Tages.”
Gegen diese beiden Hauptcharaktere bleiben die Nebenrollen Alouette und Blank fast schon ein wenig blass – allerdings stehen beide auch auf der Bühne nicht im Rampenlicht. Über Trussel hingegen erfahren wir immer mehr und auch er ist eher Typ Antiheld. Große Gefühlsausbrüche braucht man im Buch aber allgemein nicht erwarten, diese bleiben eher subtil und deuten sich nur durch Handlungen an.
Sehr interessant fand ich die von Alouette, der Bühnentechnikerin, verwendeten Methoden (die fast schon fantastisch wirken) und Shays Wissen über Vögel, das immer wieder beiläufig einfließt. Allgemein lasen sich die Theaterszenen und besonders der Premierenabend des Geistertheaters wie ein Fiebertraum und hatten eine regelrechte Sogwirkung auf mich.
Osman schafft, um im Theatersprech zu bleiben, immer wieder Kulissen, die fantastisch anmuten und einem nicht das Gefühl geben, einen historischen Roman zu lesen. Sei es Evans Glashaus mit dem Spiegelkabinett oder auch die wandernden Schausteller von Cockaigne. Und auch die ausgeklügelten Fluchtpläne, bei denen aber auch immer mal wieder etwas schief geht, haben Spaß gemacht zu lesen.
Gleichzeitig spricht er aber auch düstere Themen an. Ohne ins Detail zu gehen, beschreibt er, dass die Blackfriar Boys häufig zu Dingen gezwungen werden, hin und wieder klingt es nach Zwangsprostitution. Auch ob Shay aus Selbstschutz vor Übergriffen oder aus einer möglichen trans Identifizierung heraus häufig als Junge auftritt, wird nicht genau geklärt, sondern lediglich angedeutet.
Sprachlich hatte ich mit der Beschreibung häufig ein Problem – Übergriffigkeit wurde damit beschrieben, dass irgendwer irgendwem auf’s Hinterteil klatscht. Ganz egal ob derjenige gerade einen Reifrock trägt und das dementsprechend auch gar nicht möglich ist. Auch, dass sich grundsätzlich um eine gehobene Sprache bemüht wird, dann aber, wenn es um Sex geht, immer nur von “ficken” gesprochen wird, fand ich unpassend.
Was mich allerdings am meisten gestört hat, war die Verwendung der Bezeichnungen “M**r” und “Zi****er”. Anders als das Fatshaming im Buch, wurden diese nicht vom Antagonisten (was deutlich macht, dass es kein Konsens ist), sondern ganz natürlich vom Erzähler verwendet. Ja, es ist ein historischer Roman, erschienen ist er allerdings 2023. Und da erschließt sich mir nicht, wieso solche abwertenden Fremdbezeichnungen noch reproduziert werden müssen. Vor allem von einem Verlag, der dem Aufbau Verlag angehört, die wiederum mit Büchern zum Black History Month auf ihrer Website werben.
Über die hin und wieder auftauchenden Rechtschreib- und Übersetzungsfehler, kann ich im Vergleich dazu, gut hinwegsehen.
Allgemein hat mir dieser historische Roman mit fantastischen Elementen und einem bittersüßen Ende gut gefallen. Hier und da hätte ich mir mehr Details gewünscht, was den Lesespass aber nicht geschmälert hat.
- Autor: Mat Osman
- Titel: Das Vogelmädchen von London
- Originaltitel: The Ghost Theatre
- Übersetzer: Ulrike Seeberger
- Verlag: Rütten & Loening
- Erschienen: 2023
- Einband: Hardcover
- Seiten: 493
- ISBN: 978-3-352-00993-8
- Sonstige Informationen:
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 11/15 dpt