Ralf Günther – Winterherz (Buch)


Cover Ralf Günther - Winterherz
© Kindler Verlag

Die Charité ist verzweifelt. Die Mutter ist es längst. Denn niemand weiß, woran Wilhelms Herz leidet. Nur eines steht fest: Der Vierzehnjährige wird sterben. Um seinem Herz also eine Pause zu gönnen, wird ihm eine Kur verordnet. Das Sanatorium in der Nähe von Dresden ist dabei genauso kalt wie seine Schwestern und Ärzte. Nur gut, dass Wilhelm die Wochen nicht allein verbringen muss. Mit der Leseratte Bruno, dem zurückhaltenden Milo und dem gewichthebenden Edgar lernt er nicht nur neue Schicksale, sondern vor allem neue Freunde kennen. Und die sind im Osten der Nachkriegszeit Gold wert.

Es ist eine dieser Geschichten, die das Herz erwärmen. Die Licht in die Tage voller Dunkelheit bringen, wenn Kerzen entflammt werden und sanfte Musikklänge die Wohnzimmer erfüllen, weil sich der Geist schon auf Weihnachten vorbereitet – „Winterherz“.

Was ist ein Winterherz? Ist es vor Kälte erstarrt? Ist es ein Organ, das zu wenig Licht abbekommt? Vielleicht weil es zu viel gesehen hat? Zu viele Dinge, auf die sein zerbrechliches Alter noch nicht vorbereitet war? Ist es erkaltet, weil es keine Wärme erfahren hat von den Menschen, deren Aufgabe es eigentlich ist, Wärme zu spenden?

In Wilhelms Fall scheint dies zuzutreffen. Neben der Heroisierung und Romantisierung der hart arbeitenden und erduldenden Mutter wird das Thema immer wieder auf den Großvater Wilhelms gelenkt. Er ist kalt, eisig, könnte man meinen. Er beleidigt, er beschimpft, er schlägt. Er sorgt für ein Klima der Angst und Disharmonie, obwohl er paradoxerweise niemals in Erscheinung tritt. Da Wilhelm keine Diagnose bezüglich seiner Herzprobleme erhalten hat, lässt sich somit erraten, worunter der Junge leidet.

„Als alle Lichter gelöscht waren, wanderten Wilhelms Gedanken nach Berlin-Köpenick: in eine Wohnung in der zweiten Etage eines alten Stadthauses. Am Abend war es besonders arg. Meist hatte der Großvater eine Flasche Schwarze Mädchentraube geleert. Dann begann er, Mutter zu beschimpfen: Warum sie ihm einen Bastard ins Haus gebracht habe? Damit meinte er Wilhelm.“

Die Geschichte spielt in der Nachkriegszeit, genauer in Ostdeutschland. Doch bis auf ein paar zackige Grüße und die Nationalhymne verblasst der historische Kontext. Tatsächlich könnte die Handlung zu jeder Zeit spielen, verzöge man ein paar Stellschrauben.

Doch das stört nicht. Diesem Roman geht es nicht darum, einen Anspruch auf historische Korrektheit zu erheben. Er verzichtet auch darauf, als Literatur ernstgenommen zu werden. Seine Funktion besteht einzig und allein darin, eine Geschichte zu transportieren, die an Wunder glauben lässt. Und genau darauf kommt es bei einer Weihnachtsgeschichte an.

Worin bestehen die Wunder dieser kleinen Story über die Freundschaft vierer Jungen, die eigentlich nichts gemein haben außer einem schwachen Herzen? Vielleicht genau darin. Dass sie sich gefunden haben. Dass sie unterschiedlich sind und niemals befreundet wären, würden sie dieselbe Schule teilen. Dass sie den Mut finden, Abenteuer zu suchen, obwohl ihnen alle davon abraten. Dass sie sich streiten und doch wieder zueinander finden. Dass sie vielleicht sogar sterben und zurück ins Leben finden. Dass sie selber noch an Wunder glauben. Sei es in Form eines siebzehnjährigen Mädchens, die Verlobte oder ein Weihnachtsfest, das sie noch erleben möchten. Oder dass sie einen Humor beweisen, dem jeden Erwachsenen abhandengekommen zu sein scheint.

Gleichzeitig lässt sich beobachten, wie die Hauptfigur von einem schüchternen und ängstlichen Jungen zu einem selbstbewussten jungen Mann heranwächst, der seine Lust am Leben entdeckt. In gerade mal drei Wochen.

Es geht um Freundschaft und Liebe. Die Dinge, auf die es ankommt, wenn alles drum herum zusammenbricht.

Mit „Winterherz“ hat Ralf Günther genau die Aspekte in den Vordergrund gestellt, auf die sich die Leser*innen zurückbesinnen möchten, wenn sie zu solch einem Buch greifen.

Die Erzählung hätte dynamischer sein können. Der Handlungsstrang verläuft trotz der Höhen und Tiefen im Sanatorium ebenmäßig. Hier wäre an manchen Stellen mehr Schwung wünschenswert, um Spannung zu erzeugen.

Auch erscheint das Ende zu einfach als auch bruchstückhaft. Doch hier sollte nichts vorweggenommen werden.

Fazit

„Winterherz“ ist, was es ist – eine kindlich-romantische Geschichte über vier Jungen aus einer Zeit, in der es den Begriff Coming-of-Age noch nicht gab. Es ist für all jene ein Blick ins Warme, die sich nach Freundschaft, erster Verliebtheit und aufregenden Abenteuern sehnen und dabei die Sicherheit ihres Sofas nicht verlassen möchten, während draußen vor dem Fenster die ersten vorsichtigen Flocken einen Hauch von Weihnachten verströmen.

  • Autor: Ralf Günther
  • Titel: Winterherz
  • Verlag: Kindler/Rowohlt
  • Umfang: 144 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: 12.09.2023
  • ISBN: 978-3-463-00032-9
  • Produktseite

Wertung: 12/15


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