François-Henri Désérable – Mein Meister und Bezwinger (Buch)


Mit dem Charme einer französischen Filmkomödie

Auf einer Party begegnen sich Bibliothekar Vasco und Schauspielerin Tina das erste Mal. Sie verlieben sich auf Anhieb und stürzten sich in eine Afffäre, die Autor François-Henri Désérable mit unverhüllter Erotik in Szene setzt. Da Tina jedoch glücklich liiert ist und in Kürze den Vater ihrer Zwillinge heiraten wird, steht die Beziehung unter keinem glücklichen Stern. Eine klassische amour fou nimmt ihren Lauf.

Désérable begegnet den Charakteren seiner Liebenden mit viel Empathie. Er zeigt Tina als eine Frau, die zwischem sexuellem Begehren und ihrer Liebe zum Lebenspartner hin und her gerissen ist und stellt so das traditionell monogame Partnerschaftsmodell in Frage, das besonders den Frauen weitaus weniger sexuelle Freiheiten einräumt als den Männern.

Ausgehend von diesem eher klassisch konstruierten Plot entwickelt Désérable ein raffiniertes literarisches Spiel.

Geschickt jongliert er mit verschiedenen Erzählebenen. Ummantelt ist die Haupthandlung von einer Rahmenhandlung, die vor Gericht stattfindet. Der namenlos bleibende Erzähler, ein Autor, ist als Zeuge geladen worden, um vor einem Richter und dem beisitzenden Gerichtsschreiber über die Beziehung des Angeklagten, seines Freundes Vasco, zu Tina zu berichten. Dadurch erzeugt Désérable gleich zu Beginn eine gewisse Erwartungshaltung. Denn obwohl die Faktenlage anfangs noch recht spärlich ist, kann man bereits folgern, dass es im Verlaufe der Handlung zu einem Verbrechen gekommen ist.

Die eigentliche Handlung, die amour fou zwischen Vasco und Tina, wird also nur indirekt, als Zeugenbericht aus zweiter Hand, geliefert und ist – zusätzlich unterbrochen durch die Gedankeneinschübe des Erzählers – bereits eine Art literarische Aufarbeitung der Ereignisse.

Durch den Wechsel zwischen den beiden Erzählebenen produziert Désérable immer wieder kleine ironische Brüche, die der Schwere des unglücklichen Liebesdramas eine humorvolle Distanz einräumen und auch auf das zweite – und vielleicht sogar eigentliche – Thema des Romans verweisen: auf die Liebe zur Literatur.

„Ist Ihnen aufgefallen, dass er fast vollständig auf Zeichensetzung verzichtet?, hat der Gerichtsschreiber sich zu fragen erlaubt.
Gut bemerkt, habe ich gesagt. Wie bei seinem Gedicht, das mit ‚Wir hatten als Zuhause die Nacht‘ beginnt (…) Apollinaire verzichtete bereits 1912 in ‚Alcools‘ auf Kommas.
Wozu?, wollte der Gerichtsschreiber wissen.
Wozu was?
Auf Kommas verzichten?
Also wirklich, Vuibert, ereiferte sich der Richter, wozu welche setzen? Der Rhythmus selbst und die Zeilenenden dienen als Interpunktion – das sagte Apollinaire, präzisierte der Richter, woraufhin er sich erhob und zum Fenster ging, hören Sie, Vuibert, sagte er, hören Sie, und er begann, ‚Le pont Mirabeau‘ zu deklamieren.
Auswenig.
Von Anfang bis Ende.
Mit geschlossenen Augen.
Mit Tränen in den Augen.“

Den Leser:innen bietet sich mit diesem Roman also eine geschickt verschachtelte Geschichte in der Geschichte, die das Geschichte-Erzählen selbst in den Mittelpunkt stellt.

Désérable füttert seinen Roman mit zahlreichen Anekdoten und Details, die er aus der französischen Literaturgeschichte entlehnt. Auch mit kleinen Seitenhieben auf den Literaturbetrieb spart er nicht. Immer wieder spinnt er eine direkte Verbindung zu Paul Verlaine und Arthur Rimbaud, den beiden berühmte Lyrikern und Protagonisten des vielleicht berüchtigsten Beziehungsdramas in der französischen Literaturgeschichte. Er lässt Vasco sogar in Besitz genau jener historischen Waffe kommen, mit der Verlaine auf Rimbaud geschossen hat, und erzeugt so, der Theorie folgend, dass sobald eine Waffe in einer Erzählung eingeführt wird, diese auch zum Einsatz kommen muss, zusätzlich Spannung.

„Mein Meister und Bezwinger“ ist ein in allen Punkten raffiniert gesponnenes Lesevergnügen. François-Henri Désérable bedient das klassische Motiv der amour fou, um im Spiel mit den gängigen Klischees eine ebenso komplexe wie kurzweilige Geschichte zu erzählen, bei der bis zum Ende hin offen bleibt, ob sie tragisch oder komisch enden wird.

Der Roman ist eine Hommage an die Literatur und ihre Geschichten, die das wahre Leben spiegeln, um wieder zur Literatur zu werden.

  • Autor: François-Henri Désérable 
  • Titel:  Mein Meister und Bezwinger
  • Originaltitel:  Mon maître et mon vainqueur
  • Übersetzer: Claudia Steinitz und Tobias Scheffel
  • Verlag:  Rotpunktverlag
  • Erschienen: Juli 2023
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten:  216 Seiten
  • ISBN:  978-3039730018

Wertung: 13/15 dpt


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