Alexander Häusser – Karnstedt verschwindet (Buch)


Wie zwei Schiffbrüchige durchs Leben

Karnstedt verschwindet
© Pendragon

Der Titel nimmt es vorweg, Karnstedt ist verschwunden. Zuletzt lebte er auf einem Bauernhof in dem kleinen dänischen Weiler namens Varming, bevor er mit dem Auto eines Tages ins entfernte Bulbjerg fuhr, wo man am Strand später seine Kleidung fand. In einem Abschiedsbrief legte Karnstedt fest, dass sein früherer und wohl einziger Freund Simon seinen Nachlass regeln soll, konkret geht es um den Verkauf des Anwesens, welches Simon völlig verwüstet vorfindet. Über zwanzig Jahre ist es her, dass sich die Beiden zu Schulzeiten gesehen haben. Damals waren sie unzertrennliche Freunde, dann brach von heute auf morgen jeglicher Kontakt ab.

Damals, gemeint ist das Jahr 1974, bereiteten sich Karnstedt und Simon auf ihr Abitur vor. Karnstedt war auffällig groß, noch außergewöhnlicher war hingegen seine völlige Haarlosigkeit, die ihn zum Außenseiter machte. Simon war kleinwüchsig, weshalb er ebenfalls von seinen Mitschülern geschnitten wurde, die sich in einer Clique rund um ihren Anführer namens Tummer scherten. Konflikte zwischen Karnstedt und Tummer waren an der Tagesordnung, die Pubertät der damals Siebzehnjährigen tat ihr übriges.

Sprachlich fesselnd für Liebhaber des Ungefähren

„Karnstedt verschwindet“ ist ein sprachlich großartiges Buch, welches in den Zeiten hin und her springt. Simon räumt in Varming das Haus seines früheren Freundes auf und blickt dabei immer wieder zurück in jenes verhängnisvolle Jahr, in dem die jungen Leute erste körperliche Gefühle für andere Menschen entfachten. Die Freundschaft zwischen Karnstedt und Simon entwickelt sich anders als von Simon geplant, denn mit zunehmender Dauer bemerkt er, dass Karnstedt mehr als nur Freundschaft sucht, während sich Simon zu einer Frau hingezogen fühlt, die seine Mutter sein könnte.

Es ist dunkel. Er fährt los, rast über die Landstraße – ohne Ziel? Einfach drauflos, zur Autobahn, immer weiter, in den Norden, aber er achtet nicht darauf – oder doch? Er will sich umbringen – warum fährt er dann stundenlang?

Die beiden Einzelgänger verbringen ihre Freizeit oft am Strand, wo sie Ammoniten und Steine aus vergangenen Jahrhunderten suchen. Später wird eine Ausstellung daraus, beide träumen derweil davon, berühmte Forscher zu werden. Aktuell fühlen sie sich jedoch ausgestoßen und einsam wie Schiffbrüchige. Karnstedt ist daher fasziniert von der Geschichte des Walfängers Essex, der 1820 von einem Pottwal zerstört wurde. Mit großer Mühe gelang es der einundzwanzig Mann starken Besatzung sich auf die unbewohnte Pitcairninsel Henderson zu retten, wo es zum großen Überlebenskampf kam. Dem Schriftsteller Hermann Melville diente das Geschehen übrigens als Vorlage für seinen weltberühmten Roman „Moby Dick“.

Karnstedt und Simon waren gefangene oder Soldaten im Kampf gegen die Welt oder, wie es Karnstedt am liebsten sah, Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel. Und wie in jedem Gefängnis, in jeder Kaserne, auf allen einsamen Inseln verschafften sie sich etwas Lust in Ermangelung einer Alternative.

Probleme an der Schule, aufkommende Liebesgefühle, der ganz normale pubertäre Wahnsinn, der sich Leben nennt. Und während man sich in der Gegenwart immer wieder fragt, was denn nun aus Karnstedt wurde, mischt sich noch ein weiterer Fall schleichend unter, denn auch Tummer verschwand: 1974, bei einem Schulausflug. Zunehmend zeigt sich, dass Karnstedt recht durchtrieben war. Zunächst unbemerkt, gelingt es ihm, seinen Freund (und andere Personen) immer mehr zu manipulieren, woran letztlich die Beziehung scheitert. Wie die Ereignisse schließlich zusammenpassen ist spannend wie ein Krimi zu lesen, wenngleich es sich nicht um einen solchen handelt. Es geht um Macht und Begierde, Abenteuer und Pubertät, ein stückweit Coming-of-Age. Am Ende des schlanken Romans bleiben, dies sei spoilerfrei erwähnt, Fragen offen. Alexander Häusser erzählt sparsam, präzise und bleibt dennoch oft im Ungefähren.

Mehrere interessante Geschichten in einer, wenn man so will. Was trieb 1974 die Freunde auseinander, warum und wohin verschwand Karnstedt heute respektive Tummer früher und überlebte 1820 die Besatzung der Essex? Fragen über Fragen. Großer Lesegenuss.

  • Autor: Alexander Häusser
  • Titel: Karnstedt verschwindet
  • Verlag: Pendragon
  • Umfang: 222 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: August 2023
  • ISBN: 978-3-86532-857-1
  • Produktseite


Wertung: 12/15 dpt


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