Wie wäre es, wenn man die Gelegenheit erhielte mit der Natur direkt in Dialog zu kommen? Was würde sie uns mitteilen? Würden Mensch und Natur sich überhaupt noch verstehen?
In ihrem Roman „Saling“ verwandelt Sylvia Schmieder diese Gedanken in einen märchenhaft anmutenden Prosatext. Sie erfindet Saling, ein zauberhaftes Naturwesen, einen liebenswerten Gestaltwandler, der von Neugier getrieben den Weg in die Menschenwelt wagt.
Schmieder verzaubert ab dem ersten Satz. Ihre Prosa ist lautmalerisch perfekt komponiert. Ihre Beschreibungen lassen die Natur wie eine phantastische Szenerie erscheinen. Eine fremde magische Welt, in der alles lebt, alles atmet. Ein völlig intaktes in sich geschlossenes System, ohne Menschen.
Saling wird zum Forscher. Als ein Wesen, das zwischen den Welten wandelt, will er die Menschenwelt erkunden und verlässt den Wald.
Saling ist eine Figur, die sich leicht in die Herzen schreibt. Nie geht von ihm eine Bedrohung aus. Sein Tun ist völlig absichtslos. Ihn trägt kein menschliches Sendungsbewußtsein. Er ist kein Messias, kein Botschafter, der belehren will. Die einzige Weisheit, die er in sich trägt, ist die Natur selbst.
Schmieder lässt ihren Protagonisten exemplarisch auf verschienene Personen treffen. Saling begegnet einer alten Frau, einem Mädchen, Vertretern der Presse und Mitgliedern einer Sekte. Jede dieser Episoden zeigt, wie sehr die Maßstäbe der Natur den Menschen fremd geworden sind. Die Menschen begreifen Saling nicht oder interpretieren ihn falsch. So münden die Begegnungen in Missverständnissen. Man reagiert mit falschen Erwartungen, Ängsten, Sensationslust und Profitgier. Einzig der Kontakt zum Mädchen Mascha lässt – dank deren kindlicher Unvoreingenommenheit – ein Gefühl der Nähe entstehen.
Die Botschaft Schmieders ist unmissverständlich: Nicht Saling ist der Fremde, der nicht in die Welt passt. Es ist der Mensch, der sich längst der eigenen Welt entfremdet hat. Der sich nicht mehr in seiner natürlichen Umgebung zurechtfindet. Der Mensch ist für sich selbst zur größten Gefahr geworden.
Ihrer Zivilisationskrikitk stellt die Autorin einen unmissverständlichen Natur-Optimismus zur Seite. Sprachgewaltig erweckt Schmieder die Natur in ihrem Roman zum Leben. Die belebte Welt ist dabei mehr als nur eine zeitlos schöne Kulisse für die archaische Hauptfigur. Sie ist Ausgangs- und Endpunkt, nicht nur im Sinne der erzählten Geschichte. Und da sie die Zeit auf ihrer Seite hat, ist sie am Ende immer die Überlebende.
Schmieders Figur Saling überlebt sogar den Tod. Das Naturmärchen findet so zum guten Ende. Ein Ende, welches ebenso versöhnlich wie mahnend ist. Die Natur braucht den Menschen nicht. Sie wird auch ohne ihn bestehen.
Große Lese-Empfehlung!
- Autorin: Sylvia Schmieder
- Titel: Saling aus dem Wald
- Verlag: edition federleicht
- Erschienen: August 2021
- Einband: Broschiert
- Seiten: 180 Seiten
- ISBN: 978-3946112709
Wertung: 14/15 dpt