„Was wissen Heilige vom Leben“ von Carina Schmidt ist ein geschickt konstruiertes Mosaik, dessen Gesamtbild erst im Laufe der Lektüre sichtbar wird. Schmidt erzählt einen komplexen und bewegenden Familienroman in vierzehn Einzelgeschichten.
Kristallisationspunkt der drei Generationen umspannenden Geschichte ist Marlene, zu der alle anderen Protagonist:innen in Verbindung gebracht werden können.
Bereits der Einstieg ist heftig. Marlene flieht mit Hilfe des älteren Bruders Thomas aus der Wohnung, die sie mit ihrer Mutter, Inge, teilt. Das Zusammenleben mit der alkoholkranken und gewalttätigen Frau ist für das Mädchen zum Martyrium geworden.
Das zweite mit „Prinzessin“ betitelte Kapitel knüpft vier Jahre später an die Ereignisse an, ist aber Inge, Marlenes Mutter, gewidmet, die nun die eigene Kindheit erinnert. Ihr Bericht über den pädophilen Vater ist erschütternd. Der Zusammenhang zwischen Inges gescheiterten Leben und dem Leben ihrer Tochter Marlene wird hier erstmals sichtbar.
In jedem ihrer Kapitel stellt Schmidt eine andere Figur in den Mittelpunkt. Sie folgt dabei nicht immer der Chronologie der Ereignisse, sondern springt ab und an vor und zurück, wodurch sie die Leserschaft zu besonderer Aufmerksamkeit einlädt. Es entstehen sehr einfühlsame Einzelporträts, die von der Autorin klug aufeinander abgestimmt sind. Auch das jeweilige Zeitkolorit weiß Schmidt gut einzufangen. Der Umgang mit Themen wie z.B. Homosexualität und Gleichberechtigung wird authentisch im Wandel der Zeit dargestellt.
Jede der vierzehn Erzählungen könnte völlig singulär für sich allein stehen. Auch das ein Beleg für die hohe literarische Qualität der Texte. Und doch – oder gerade dadurch –inszeniert Schmidt eine verblüffende Kontextualität. Keine der dargestellten Biografien steht für sich allein. Die klassische Frage nach der (Lebens-)Schuld des Einzelnen erfährt eine klare Relativierung.
Nur um kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Schmidt spricht sie ihre Protagonist:innen nicht frei. Missbrauch und Vernachlässigung werden nicht beschönigt. Aber sie weitet den Blick, in dem sie die Zusammenhänge aufdeckt, die es immer gibt.
„In Wirklichkeit ist niemand nur doof oder nur toll. Wir sind alle von allem etwas.“
(Seite 143)
lässt die Autorin Marlene im Gespräch mit der sechsjährigen Tochter sagen.
Immer wieder kehrt die Erzählstimme zu Marlene, der zentralen Figur im Buch, zurück. Ihre Lebensgeschichte, die geprägt ist von ihrer vergeblichen Suche nach Liebe, verleiht der Gesamterzählung den roten Faden. Ebenso wie ihr Bruder Thomas sucht auch Marlene nach dem „richtigen“ Weg, um ihr Leben zu führen.
Schmidts tiefe Empathie für ihre Figuren macht deutlich: Jede Biografie erzeugt Konsequenzen. Kein Leben existiert nur für sich allein. Zu leben bedeutet Fehler zu machen. Niemand ist ohne Schuld, aber auch niemand ist an allem schuldig. Es gibt keine Heiligen. Man kann bestenfalls versuchen, ein guter Mensch zu sein.
Carina Schmidt überzeugt in ihrem Debüt durch die gelungene Symbiose aus klarer fokussierter Sprache und lebensnaher Kontextualität.
- Autor: Carina Schmidt
- Titel: Was wissen Heilige vom Leben
- Verlag: edition federleicht
- Erschienen: 05/2020
- Einband: Softcover
- Seiten: 158
- ISBN: 978-3-946112-55-6
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 dpt
