Es dauerte einige Jahre, bis uns der österreichische Bestseller-Autor Daniel Glattauer (“Gut gegen Nordwind”) ein neues Werk bescherte. “Die spürst du nicht” ist nun erschienen und bewegt.
Als Warnung sei vorweg erwähnt, dass es kaum möglich ist, eine aussagekräftige Rezension zu verfassen, ohne wesentliche Handlungselemente auszusparen.
Zwei Familien machen in der Toskana Urlaub. Im Gepäck die Kinder, will man dennoch vom hektischen Alltag in der Heimat fliehen. Einerseits lernen wir die Binders kennen, wo Er ein erfolgreicher Winzer aus Niederösterreich ist. Engelberts Frau, Melanie, wollte eigentlich Schauspielerin werden, doch so recht wollte das nicht gelingen.
Konträr dazu ist Familie Marinek, wo Oskar ein besserwissender Lektor ist, und seine Frau, Elisa Strobl-Marinek, eine Nationalrätin der Grünen. Die 14-jährige Tochter Sophie-Luise erweckt zwar gegenüber ihren Eltern den Eindruck einer Vorzeigeschülerin, doch der Schein trügt hier.
Damit es für sie nicht gar so langweilig wird, durfte sie die gleichaltrige Aayana mitnehmen. Sie ist ein Flüchtlingskind aus Mogadischu und kennt Sophie-Luise im Prinzip nur oberflächlich. Doch recht viel näher lernen wir das Mädchen zu Beginn nicht kennen: Es ertrinkt unbemerkt im Pool der Villa.
In weiterer Folge wird die Handlung respektive die aktuellen Ermittlungserkenntnisse mittels Pressemeldungen weitergesponnen. Darunter finden sich dann Kommentare aus Internetforen, ein beliebtes Stilmittel von Glattauer, analog der E-Mail-Konversationen aus “Gut gegen Nordwind”. Während die Geschichte natürlich fiktional ist, könnten die Kommentare tatsächlich aus Facebook oder Zeitungsportalen stammen. Hier wird in aller Selbstherrlichkeit und Grausamkeit die eigene Meinung rausgerotzt. Ein trauriges Phänomen der aktuellen (Social) Medienlandschaft, welches tagtäglich zu beobachten ist.
Während die Politikerin Strobl-Marinek versucht ihre Karriere zu retten, flüchtet sich die Tochter immer mehr in digitale Welten. Trauerarbeit passiert kaum bis gar nicht. Das tägliche Hamsterrad möge sich ja schließlich weiterdrehen. Die Situation in Sophie-Luises’ Schule wird nach und nach auch immer unerträglicher. Wie gut, dass sie im Internet den geheimnisvollen Künstler Pierre kennenlernt, der zwar sehr scheu und ausweichend auf gewisse Fragen reagiert, aber dennoch eine starke Anziehungskraft auf den Teenager ausübt. Das es gegen Ende hin noch richtig dramatisch wird, war zu erwarten.
Ist man sich zu Beginn noch sicher, dass die Elternpaare ohne Strafe davonkommen, flattert später eine Klage auf Schmerzensgeld der Eltern der verstorbenen Aayana ins Haus. Der Anwalt der Strobl-Marineks, Oliver Steinpichler, ist so abgehoben wie siegessicher zugleich. Das letzte Drittel des Buches handelt somit hauptsächlich vom Prozess und all seinen dahingehenden Nebenschauplätzen.
Glattauer gelingt es schon wie in seinen anderen Romanen, die Hauptcharaktere mit einem gekonnten Mix aus Skurrilität und Normalität, der Leserschaft näherzubringen. Vieles wird intensiv beleuchtet, anderes gar nicht. Dabei hält er der Gesellschaft immer wieder einen Spiegel vor. Wie viel wert ist ein Leben? Eine Frage, die auch hier nicht beantwortet werden kann. Und auch wenn manche Szenen vielleicht ein wenig zu konstruiert wirken, braucht es vielleicht genau das, um zu bewegen, um nachzudenken, um nicht nur zu konsumieren. Jedes Schicksal, jeder Mensch, hat eine Geschichte. Nicht jede eröffnet sich gleich zu Beginn, manche vielleicht auch nie. In “Die spürst du nicht” werden jene Menschen beleuchtet, die sonst nie gehört werden würden – und das ziemlich deutlich.
Fazit: Daniel Glattauer bearbeitet in “Die spürst du nicht” ein emotionales, ernstes Thema und dennoch in seiner gekonnten Leichtigkeit. Dabei zeigt er allerdings auf, “dass wir nicht so sind”, leider auch nur eine Floskel ist.
- Autor: Daniel Glattauer
- Titel: Die spürst du nicht
- Verlag: Zsolnay
- Erschienen: März 2023
- Einband: Hardcover
- Seiten: 304
- ISBN:978-3-552-07333-3
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 12/15 dpt