Felicitas Geduhn – Sommer (Buch)


Melancholisch, tragisch, trostvoll

Ausgerechnet eine nebensächlich erscheinende Anekdote über ein außergewöhnliches sibirisches Kältephänomen stellt Felicitas Geduhn dem Anfang ihres Romans SOMMER voran. Eine surreale Geschichte über durch Körperwärme in der Eisluft erzeugte Umrisse.

„In dem Sommer, von dem ich erzählen will, begegneten wir zum ersten Mal in unserem Leben der Kälte Sibiriens.“ (Seite 7)

Der Kontrast könnte kaum größer sein, denn nach dieser traumwandlerischen Einleitung springt die Autorin direkt in die knallende Hitze des Sommers von 1989. Ich-Erzählerin Anna erinnert ihre Sommerferien in einem kleinen DDR-Dorf. Die Zeit scheint sich endlos auszudehnen. Langeweile und Hitze lenken die Tage. Dass sich die Welt in diesem schicksalsschweren Jahr im Umbruch befindet, davon spürt man jedoch nichts zwischen den ruhig dahinfließenden Zeilen. Es sind Kindheitserinnerungen. Die Erlebniswelt der Ich-Erzählerin ist klein. Und doch beherrscht von Beginn an eine kaum greifbare Schwere den Erzählton. Anna ist Vollwaise, nach dem Unfalltod beider Eltern lebt sie bei der Großmutter. Der Verlust der Eltern liegt wie ein Schatten über der ansonsten heilen Welt.

Auch Martin, Annas Cousin und bester Freund, wächst ohne Vater auf. Jedoch lebt dieser nur woanders und Martin geht ihn suchen.

Anna und Martin lernen Seniorin Fanni, eine Großtante, kennen, die für sie sehr wichtig wird. Der plötzliche Tod der siebzigjährigen Freundin markiert das Ende von Annas Ferien, und auch ein wenig das Ende ihrer Kindheit.

Freundschaft, Trennung, Verlust – der Sommer 1989 wird für Anna zu einem lebensprägenden Erlebnis. Die symbolhafte Ausgangsgeschichte, die von Gefahr, Kälte und Tod erzählt, wird zum Grundmotiv, das sich von nun an durch den Roman zieht.

Geduhn spannt ihr Erzählen über einen Zeitraum von sechsundzwanzig Jahren, den sie in drei große Abschnitte unterteilt. Aus dem Jahr 1989 springt sie direkt ins Jahr 2000, danach ins Jahr 2015. Den Raum zwischen diesen Abschnitten lässt sie leer. Nach jedem Zeit-Sprung muss man sich als Leser:in erneut orientieren, muss die Inventurliste aus Verlusten und Gewinnen neu erstellen.

Verblüffenderweise verändern die Ereignisse, die in den unerzählten Zwischenräumen passieren und die wir uns Leser:innen erst zusammenreimen müssen, weder die Protagonisten noch deren Lebenseinstellung. Die einzelnen Abschnitte greifen nahtlos ineinander, getragen von der intensiven Grundstimmung des Romans und der großen über Raum und Zeit unverbrüchlichen Verbundenheit der Protagonisten.

Es herrscht eine besondere Melancholie zwischen den Zeilen. Geduhn lenkt die Aufmerksamkeit in die Tiefe, ins Emotionale. Die großen historischen Veränderungen spielen nur am Rande eine Rolle. Das Wesentliche wird nicht immer direkt benannt. Es geschieht fast nebenbei.

Die von der Autorin erzeugten Leerstellen verstärken alle Ereignisse wie ein zusätzlicher Resonanzraum. Geduhn überlässt ihren Leser:innen viel Raum zur eigenen Interpretation. Nicht alles wird auserzählt, vieles kann man sich nur indirekt erschließen. Manches bleibt auch einfach Spekulation. So z.B. die Beziehung zwischen Anna und Martin.

Geduhn transportiert eine Familiengeschichte, die von zahlreichen Verlusten geprägt ist. Fast traumwandlerisch bewegt sich Anna durch ihr Leben, zurückgezogen und still, so als ob sie bloß keine Aufmerksamkeit erregen möchte, um das Leben nicht auf sich aufmerksam zu machen, um das Risiko weiterer Verluste gering zu halten.

„… und ich hielt die Luft an. Bis mir wieder einmal einfiel, dass man atmen muss, um weiterzuleben.“ (Seite 130)

Geduhn behandelt große existentielle Themen. Trotzdem verzaubert ihr Roman mit zarter sprachlicher Leichtigkeit. Durch ihren poetischen Stil verwandelt sie Trauer in Trost – oder um im ursprünglichen Bild zu bleiben –  die sibirische Kälte des Lebens in zwischenmenschliche Sommerwärme.

Sommer ist der Debütroman der Autorin.

  • Autorin:  Felicitas Geduhn
  • Titel:  Sommer
  • Verlag: S. Marix Verlag
  • Erschienen: Februar 2023
  • Einband:  Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN:  978-3737412124


Wertung: 11/15 dpt


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