Opulenter Blick auf das 20. Jahrhundert
Ditha Brickwells Roman „Engeltreiber“, als erster Teil einer Trilogie geplant, ist in vielerlei Hinsicht ein monumentales Werk. Die Autorin verwebt mehrere Erzählstränge auf unterschiedlichen Zeitebenen zu einem großen Porträt österreichischer und teilweise europäischer Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Im Zentrum stehen Leon, ein Heranwachsender, und Genoveva, eine alte Frau, in deren Obhut der Junge stundenweise gegeben wird. Diese beiden aufgrund von Alter, Geschlecht und Lebenserfahrung gegensätzlichen Figuren erzählen sich ihre Lebensgeschichten. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft teilen sie fundamentale Gemeinsamkeiten. Beide haben Armut, Not und Einsamkeit erlebt und überlebt.
Der von der Mutter vernachlässigte Teenager Leon wird zum Berichterstatter der Künstlerkreise in Paris, Wien und Berlin der 60-er Jahre, wo er auf große Namen der bildenden Kunst und Literatur trifft. Die Perlenfädlerin Genoveva erinnert als Zeitzeugin die Stationen ihres bewegten Lebens. Aus einfachsten bäuerlichen Verhältnissen stammend geht sie nach dem Ersten Weltkrieg allein nach Wien, etabliert sich dort als Servicekraft in einem klassischen Wiener Kaffeehaus, wird alleinerziehende Mutter, erlebt und überlebt den Zweiten Weltkrieg.
Beide Biografien sind wiederum über weitere Personen miteinander verbunden. Daraus konstruiert Brickwell ein komplexes Gesamtbild mit unzähligen Nebensträngen und Einschüben. Viele der auftauchenden Figuren haben berühmte reale Vorbilder.
Das Historische haftet bei Brickwell stets an den Menschen, an Schicksalen, an Erlebtem. Das macht ihre Darstellung von Geschichte zu etwas sehr persönlichem und gleichzeitig gewährt die Autorin dadurch eine differenzierte Vielstimmigkeit.
Brickwell wechselt nicht nur die Erzählperspektiven von Leon und Genoveva, sie bringt mit ihrer Nebenhandlung um Leons Stiefschwester Veronique einen weiteren Handlungsstrang ins Spiel, bei dem sehr lange unklar bleibt, wo er angeknüpft werden soll. Leider weicht die Autorin im letzten Viertel von ihrer alternierenden Leon-Genoveva-Erzählweise ab, wodurch das Erzählen an Dynamik einbüßt.
„Engeltreiber“ ist sowohl ein historischer Roman als auch ein Roman über das Erzählen von Historie. Immer wieder lässt Brickwell kritische Gedanken über den Umgang mit geschichtlicher Darstellung und Deutung in ihr Erzählen einfließen.
Konzeption, Umfang und Detailfülle des Romans sind gewaltig, aber auch Brickwells Sprachgewalt imponiert. Die Autorin stattet ihr Erzählen mit ständig neuen Wortschöpfungen aus, wechselt mühelos Tonarten und Perspektiven. Sie gewährt ihren Geschichten großzügig Raum, um sie mit sprachlicher Virtuosität auszustatten.
Die Opulenz des Romans verlangt den Leser:innen sehr viel ab. Es erfordert eine gewisse Konzentration, um in der Fülle an Informationen und Perspektiven nicht verloren zu gehen. „Engeltreiber“ ist trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – seiner anspruchsvollen sprachlichen Auskleidung keine leichte Lektüre. Brickwell gönnt ihrer Leserschaft kaum Atempausen. Der Roman ist wie eine bis auf den letzten Quadratmillimeter angefüllte Schatzkammer voller Preziosen. Man weiß kaum, wohin man schauen soll. Man will ja nichts verpassen.
Es überrascht nicht, dass die Autorin weitere Bände geplant hat. Denn Brickwell ist eine, die unfassbar viel zu erzählen hat und damit noch lange nicht fertig ist.
Fazit: Ein emotionaler Blick hinter die Kulissen österreichischer Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts
- Autorin: Ditha Brickwell
- Titel: Engeltreiber
- Verlag: Drava Verlag
- Erschienen: Februar 2023
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 474 Seiten
- ISBN: 978-3991380214
Wertung: 11/15 dpt