Annika Büsing – Koller (Buch)


Wenn Tschick erwachsen wird …

Eine Begegnung wie ein Zusammenprall. Eine amour fou, denkt man auf den ersten Seiten. Chris und Koller sehen sich im Park, verlieben sich und könnten gegensätzlicher überhaupt nicht sein. Koller, ein chaotischer Hippie ohne Lebensplan und festen Job. Chris, ein introvertierter Anzugträger, der alles plant und gerade darum im Leben kein Glück findet.

Eine Reise beginnt, sowohl metaphorisch als auch konkret. Ans Meer wollen sie, ein spontanes Kapitel in ihrer beider Gegenwart schreiben, in Kollers altem Polo, und landen stattdessen in der Eifel, mitten in Kollers Vergangenheit. Davon hat Koller viel: Es gibt eine Ex-Freundin, mit der er ein Kind hat. Eine Schwester, die in einem Behindertenheim lebt und für die er sich verantwortlich fühlt. Ein abgebrochenes Medizinstudium. Also jede Menge loser Fäden, die sich zu einem Knäuel verwirrt haben. Aber auch Chris trägt sein Schicksals-Päckchen mit sich herum. Er sucht seine Richtung. Nie hat er gelernt mit seinen Emotionen umzugehen und sie zum Kompass in seinem Leben zu machen.

Büssing wirft uns ähnlich wie in ihrem Debüt „Nordstadt“ eine Lovestory vor die Füße, der man kaum mehr als ein paar hitzig-leidenschaftliche Tage zutraut. Doch mit jeder weiteren Episode, die sie ihre Figuren erleben lässt, werden wir eines besseren belehrt. Denn die Gegensätze der beiden Hauptfiguren, die anfangs noch unvereinbar erscheinen, entpuppen sich als genau das, was ihnen fehlt und nur sie sich geben können.

So beginnt man auf ein Happy End zu hoffen. Und genau diese Hoffnung ist es, die einen durch die Geschichte trägt.

Büsing lässt Ich-Erzähler Chris die Geschichte in sieben Tage aufgeteilt erzählen, unterbrochen von einigen Einschüben, die die Biografie der beiden Hauptfiguren mit einer Vorgeschichte ausstatten. Sieben Tage, eine Zeitspanne, die an die Schöpfungsgeschichte erinnert. Eine Anspielung, die Büsing Chris immer wieder in den Mund legt, sobald er über seine Identität und Selbstbestimmung nachdenkt.

„Ja, ich weiß, ich halte mich nicht ganz an meine selbstgewählte Chronologie. Aber hat Gott das bei der Schöpfung? Meine Güte, wenn er am fünfzehn Tag gemerkt hat, dass er vergessen hat, Schwalben zu mach? Dann wird er sie wohl noch gemacht haben, auch wenn er gerade mit den Landtieren zugange war. Ein bisschen Flexibilität muss schon drin sein. Wenn Gott nicht flexibel wäre, würden wir keinen einzigen Sommer erleben. Also bitte. Er hat uns zu seinem Bilde erschaffen. Als Mann und als Frau übrigens. Da hat er auf jeden Fall was vergessen.“ Seite 48

Büsing entwickelt Figuren, die so verrückt erscheinen, dass sie eigentlich nur wahr sein können. Sie entwirft Dialoge, die akrobatisch zwischen Wortwitz und Warmherzigkeit balancieren. Sie zeichnet Typen, die zunächst wie überzeichnete Klischees wirken, von ihr allerdings mit derart großartiger Würde in Szene gesetzt werden, dass sich jedes Vorurteil sofort in Luft auflöst.

Auch sprachlich gelingt der Autorin alles. Sie nutzt die gesamt Palette von obszön bis poetisch und findet dabei immer den richtigen Ton. Das ist so dicht am echten Leben, und doch auch schon wieder drüber hinaus, weil es stellenweise zu schön ist um wahr zu sein.

Mit „Koller“ hat sie eine nahezu perfekte Lovestory geschrieben. Perfekt, weil die Menschen, die hier lieben, alles andere als perfekt sind. Das ist nur die Liebe selbst, die ihnen wie ein Geschenk des Himmels begegnet.

„Keine Ironie. Kein Witz. Keine Kompromisse. Hinter den Bäumen bleiben wir stehen. Das Licht fällt dir ins Gesicht. Ich denke an nichts, an Schönheit, an den Klumpen Lehm, von dem es heißt, dass Gott den ersten Menschen daraus geformt hat. Das ist unsere Bestimmung. Wir versuchen in jedem Klumpen Lehm Gottes Werk zu sehen. Bei dir fällt es mir leicht.“ Seite 10

  • Autorin:  Annika Büsing
  • Titel:  Koller
  • Verlag:  Steidl Verlag
  • Erschienen:  Februar 2023
  • Einband:  Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 175 Seiten
  • ISBN:  978-3969991961


Wertung: 14/15 dpt

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