Megan Abbott – Aus der Balance (Buch)


Grenzen zwischen Bühne und Leben verschwimmen

Aus der Balance
© Pulp Master

Vor einigen Jahren übernahmen Dara und Marie Durant die Ballettschule ihrer Mutter gemeinsam mit Daras Ehemann Charlie, einst Lieblingsschüler der Mutter. Doch für seinen Traum als Tänzer musste Charlie einen hohen Preis bezahlen, denn sein Körper gleicht einer Ruine, regelmäßige Behandlungen bei seiner Physiotherapeutin und starke Medikamente bestimmen neben der Büroarbeit den Alltag. Seit Jugendjahren sind die drei unzertrennlich und leben ausschließlich für das Ballett, wo der alljährliche Höhepunkt, die Aufführungen des Nussknackers, immer näher rückt. Ausgerechnet in jener Nacht, in der der genaue Zeitplan erstellt ist, kommt es zu einem Brand im Studio, einer der drei Säle ist nicht mehr nutzbar. Hilfe ist dringend geboten und sie naht in Person des Bauunternehmers Derek, der von Mrs. Bloom, Mutter einer Ballettschülerin, empfohlen wurde.

So hart die Übungsstunden für die Schülerinnen und Schüler sind, so dominant ist das Auftreten von Derek, der mit Macht in die Dreierbeziehung eindringt. Schnell ist Marie ihm hörig und die Schmerzen, die ihr Derek zufügt, stehen jenen aus der Ballettübung in nichts nahe. Dara wirkt zunehmend verzweifelt, die Lage droht zu eskalieren, während Charlie dem Ganzen scheinbar gleichgültig gegenübersteht.

Wir haben eine andere Beziehung zum Schmerz, hatte ihre Mutter immer gesagt. Er ist unser Freund, unser Geliebter. Wenn ihr aufwacht und der Schmerz ist weg, wisst ihr, was das bedeutet?
Was?, hatten sie dann jedes Mal gefragt.
Ihr seid keine Tänzerinnen mehr.

Während die neue Vierer-Konstellation alles mitzureißen droht, geht es auch bei den Ballettschülerinnen mit Härte zur Sache, denn es kann nur eine Klara im Nussknacker geben. Die Rollenvergabe wollen nicht alle Mädchen akzeptieren, denn sie träumen natürlich den Traum von der großen Ballerina, die sie eines Tages sein wollen. Oder sind es die Träume ihrer Eltern?

Erste Autorin bei Pulp Master

Pulp Master, 2022 mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet, ist bekannt für harte Kost. Dreckig geht es meist zu, preisgekrönte Genregrößen des Noir zählen zu den Autoren des Verlags. Derek Raymond (Deutscher Krimipreis 1991 für „Ich war Dora Suarez“), Tom Franklin (Deutscher Krimipreis 2019 für „Krumme Type, krumme Type“) und der bekannteste Autor Garry Disher (Deutscher Krimipreis 2000 für den ersten Band der Wyatt-Reihe „Gier“), um nur drei exemplarisch zu nennen. Mit Megan Abbott findet sich erstmals eine Frau im Verlagsangebot. Eine Autorin? Ein Ballettroman? Bei Pulp Master? Wie passt das zusammen? Sehr gut.

Starke weibliche Figuren bestimmen das literarische Werk von Abbott, die bislang vor allem in Amerika große Erfolge feiern konnte, aber dank Netflix („Wage es nicht“; im Original „Dare Me“) bei uns keineswegs unbekannt ist. Nun also ein Ballettroman, der sich als düsterer Noir mit präziser Doppelbödigkeit auszeichnet, denn die Grenzen zwischen Bühne und Realität sind fließend. Aus der Sicht von Dara werden die Ereignisse geschildert, die alles über den Haufen werfen bis es folgerichtig zu einem tödlichen Zwischenfall kommt. Es ist bezeichnend, dass der dann „ermittelnde“ Detective Walters erstmals auf Seite 271 erwähnt wird.

Platz Eins der Krimibestenliste im Februar 2023

Bis es zu dem tödlichen Vorfall kommt wird die Arbeit an der Ballettschule, das brutale Training, die Schändung des Körpers, die von Ehrgeiz zerfressenen Schülerinnen und noch mehr deren Eltern beschrieben. Der weibliche Körper wird geschunden und verfügbar gemacht; beim Ballett wie beim Sex. Unterwürfigkeit und Demütigungen gehören dazu, physische Schmerzen werden verklärt. Wie die Grenzen zwischen Ballett und dem Leben der Protagonisten verschmelzen entspringt einer durchaus beeindruckenden Choreografie. Der erste Platz auf der Krimibestenliste im Februar 2023 kommt nicht von ungefähr.

Ihre Füße, noch so rundlich und unversehrt, würden irgendwann sein wie die der älteren Mädchen. Blutblasen, Sohlen wie rote Zwiebeln, Füße, die sich ungefähr einmal pro Monat von der Spitze bis zur Ferse komplett schälen, Schwielen, so dick wie Wagenplane, die Zehen zur Seite gebogen, nekrotische, eitrige Zehen, von denen sich die Nägel ablösten.

Das Balletttraining, dessen brutale Begleiterscheinungen und das besagte Märchen mit Onkel Drosselheimer sowie die zunehmend fragile Ménage à Trois bestimmen die Handlung, wenngleich immer wieder Derek für Furore sorgt. Warum geht es mit den Bauarbeiten in dem zerstörten Saal nicht voran? Im Gegenteil, die Probleme werden immer größer. Warum wurde Derek von Mrs. Bloom überhaupt empfohlen und wieso ist sie unter ihrer Telefonnummer nicht erreichbar? Was steckt hinter dem mysteriösen Verkehrsunfall, bei dem damals die Eltern von Dara und Marie, deren Beziehung zunehmend aus den Fugen geriet, starben?

Zahlreiche weitere Fragen werden sich im Lauf der Handlung stellen und die Geschehnisse finden teils überraschende Wendungen und Motive. Abbott bedient sich nicht nur des Noir, sondern vor allem des Schauerromans und überwindet die Genregrenzen spielend. Für manche mag der intensive Ausflug zum Nussknacker und das Trainingsprogramm womöglich ein paar Längen haben, der Gesamteindruck überzeugt jedoch.

Spannende, kluge Unterhaltung von einer Autorin mit einem Ballettroman im Pulp Master Verlag. Manchmal gibt es sie noch, die großen Überraschungen.


Wertung: 12/15 dpt


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