Simone Scharbert – Rosa in Grau (Buch)

Die Rettung der Farbe Individualität

Simone Scharbert wirft in ihrem wortgewaltigen Roman „Rosa in Grau“ ein Licht auf ein dunkles Kapitel der deutschen Nachkriegszeit. Sie beschreibt das Leben in einer psychiatrischen Einrichtung, wobei sie die Perspektive einer betroffenen Patientin einnimmt. So wirkt der Text erscheint wie ein Bericht aus erster Hand, der eine jahrelange Leidensgeschichte offenbart.

Die traumatisierte Frau, von der wir nie erfahren worin der Ursprung ihrer Erkrankung liegt, wird über Jahre gemeinsam mit hunderten Mitpatientinnen in einer Einrichtung festgehalten. Mangel und stumpfe Arbeitsaufträge bestimmen den Alltag. Es geht ausschließlich darum, die psychisch Erkrankten aufzubewahren, sie ruhig zu halten. Anpassung und Betäubung statt Therapie. Starre Verhaltensregeln und die würdelose Unterbringung verhindern systematisch jede Privatheit.

Scharbert macht das Leid der Protagonistin durch ihre poetische Sprache greifbar. Sie erzeugt Bilder, bei denen die Grenze zwischen Wahrnehmung und Schmerz aufgehoben wird.

„Laut ist es, ein harter Schlag. Dieses Geräusch, wenn sie das Licht im Schlafsaal ausschalten. Dunkelheit einrastet. Alle Glühbirnen auf einmal verlöschen. Keine Ausnahme, kein Erbarmen. Für alle Frauen das gleiche Dunkel. 70 an der Zahl. 70 Frauen in einem Saal. Der Nachttopf für den Notfall mitten im Raum. Sich daran zu gewöhnen ist schwer, Tag für Tag ein neuer Schlag. Ich sitze auf meinem Bett, ziehe die Decke aus dem Gestell, schlüpfe hinein. Lege den Kopf aufs Kissen, erschöpft. Vom Wenig-Tun, vom Ungewiss-Sein, vom Immer-Gleichen.“
Seite 44

Den Betroffenen bleibt nur die Flucht ins Innere. Das Erzählen gerät für die Protagonistin zum Akt der Selbstbestimmung. Im Schreiben, im Worte aneinanderreihen, erzeugt sie einen eigenen Raum, verwahrt sie die letzten Spuren ihrer sich verlierenden/ verloren gegangenen Individualität.

Das Leben in der Anstalt erscheint wie ein unaufhörlicher Albtraum. Es gibt keine hoffnungsvolle Perspektive. Freundschaften entstehen nur zögerlich, alle Beziehungen sind fragil. Die Einzelnen können ihre Einsamkeit nicht wirklich überwinden.

Das Geschilderte ist tatsächlich schwer zu ertragen. Die Schönheit von Scharberts Sprache wirkt dabei noch als Resonanzverstärker.

„Sie hat aufgehört zu zählen. Das sei normal. Sagen sie. Irgendwann hören alle zu zählen auf. Die Tage, die Wochen, die Monate. Die Jahre. Man denkt nicht mehr in Zeit. Spürt sie aber. Sie legt sich auf einen, dicht, eine zähe Schicht. Langsam macht sie einen, hilflos auch. Sie sitzt im Leinen, ich kann sie fühlen. Morgens beim Aufstehen. Dann, wenn ich den Blick Richtung Decke wende. Emma sich selbst überlasse. Kurz Luft hole, bevor ich aufstehe. Mein Schlafhemd aufknöpfe, mit schnellen Handgriffen, damit die anderen den Körper nicht sehen. Meinen Körper. Der nur noch wenig mit mir zu tun hat. In den beginnenden Tag schlüpfe.“
Seite 98

Nicht immer sind die erzeugten Bilder eindeutig zu entschlüsseln. Die Autorin gewährt Interpretationen viel Raum, verzichtet bewusst auf klare Abgrenzungen. Geschickt integriert sie die dabei entstehende Unsicherheit bei der Lektüre in die Atmosphäre des Textes, macht die offenen Fragen zum Bestandteil ihrer Darstellung.

Scharbert hat authentische Quellen genutzt und diese literarisch verwandelt. Ausgangspunkt ihrer Arbeit war die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, die ein Museum für Kunst von Menschen mit psychischen Ausnahme-Erfahrungen beherbergt. Ca. 6000 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde, Skulpturen, Textilien und Texte, die von Bewohner:innen psychiatrischer Anstalten zwischen 1840 und 1945 geschaffen wurden, umfasst der Bestand. Ein Hinweis auf die Werke, auf die sie Bezug genommen hat, findet sich im Anhang  ebenso wie eine kurze persönliche Einordnung durch die Autorin.

Die edition AZUR, in dem Scharberts Roman erschienen ist, zeichnet sich aus durch hochliterarische experimentelle Texte, in die sich „Rosa in Grau – Eine Heimsuchung“ eindrucksvoll einreiht.

Bereits besprochen in unserem booknerds-Magazin wurde mit „Freudenberg“ von Carl-Christian Elze ein weiterer Roman aus dem Verlag, der es 2022 sogar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte.

  • Autorin:  Simone Scharbert
  • Titel: Rosa in Grau
  • Verlag:  edition AZUR
  • Erschienen:  Oktober 2022
  • Einband:  Broschiert
  • Seiten:  180 Seiten 
  • ISBN:  978-3942375566

 


Wertung: 14/15 dpt

Teile diesen Beitrag:
Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share