Judith Kleibs – Königinnenreich (Buch)


© Mosses Schroeter

Am Anfang wusste ich nicht so recht, wohin mich “Königinnenreich” von Judith Kleibs führen wollte: Ich fragte mich, ob es um Depressionen, Begegnungen und Beziehungen oder einfach nur um einen Selbstfindungstripp gehen soll. Dabei würde die Protagonistin aufregende und in sich selbst ruhenden Menschen treffen, die ihr auf ihrer Reise mit Ratschlägen und Perspektive verändernden Weisheiten zur Seite stehen würden, während sie sich nach und nach selbst findet.

Deswegen dachte ich, dass ich die Geschichte einer Protagonistin lesen darf, die durch Begegnungen und Selbstreflexion lernt, was sie will – oder ihren Frieden damit schließen kann, es nie zu erfahren.

Stattdessen habe ich die Geschichte einer jungen Frau erhalten, die Schritt für Schritt ihre Identität verliert und versucht, sich in oberflächlichen Begegnungen  und vermeintlicher Freiheit wiederzufinden, ohne zu wissen, was ihr wirklich Halt gibt.

“Königinnenreich” von Judith Kleibs wurde 2022 durch den Mosses Schroeter Verlag veröffentlicht und thematisiert Freiheit, Einsamkeit, Persönlichkeitsentwicklung und was es wirklich bedeutet, eine Identität zu haben.

Die Geschichte beginnt damit, dass unsere Protagonistin in eine neue Stadt gezogen ist. Dort bleibt sie einsam in ihrem Zimmer, beobachtet Menschen, hört Musik und wünscht sich Zugehörigkeit, die sie nicht finden kann. Als sie dann die scheinbar sorglose Marla kennenlernt und sie unserer Protagonistin zeigt, wie man von einer Begegnung zur nächsten gleiten kann, indem man den Menschen etwas gibt, nach dem sie sich sehnen, beginnt unsere Protagonistin sich in ihrer neu gewonnen Freiheit zu verlieren. Erst als unsere Protagonistin lernt, wer sie ohne andere – ohne Zeugen, ohne Wirte, ohne dem Anspruch anderen gefallen zu müssen – sein kann, beginnt sie ihre eigene Identität zu finden.

Immer wieder finden in der Stadt Demonstrationen statt, die sogar in Gewalt enden. Es wird aber nie aufgeklärt, worum es denn genau in den Demonstrationen geht.

Marlas Lebensweise zeigt offen und ohne Filter, wonach sich viele Menschen sehnen: Freiheit, Kontakt, Begegnung, Nähe, Anerkennung – Dinge, für die Menschen bereit sind, viel zu geben, ohne wirklich zu wissen, was diese Worte für sie wirklich bedeuten. Indem Marla diese Ideale für andere verkörperte, war es ihr möglich, obdach- und mittellose über Jahre hinweg zu überleben – sie vernetzte sich mit Menschen, führte Gespräche und achtete penibel darauf, nicht zu viel von sich zu verraten, um den Fantasien ihrer Gegenüber entsprechen zu können.

Dass es ihr Schmerzen bereitete, ihr Verhalten, ihre Identität und ihren parasitären Lebensstil zu reflektieren und sie sogar Stimmen in ihrem Kopf hörte, verdrängte sie bewusst und flüchtete, sobald sie jemand zur Sprache stellte. 

Erst als sie auf unsere Protagonistin trifft, findet Marla jemanden, an den sie sich binden möchte, denn sie sieht in unserer Protagonistin einen Spiegel.

Ich habe mich während dem Lesen ständig gefragt, wieso unsere Protagonistin ein Spiegelbild sein sollte und wieso das so wichtig für die Figuren war. Erst rückblickend wurde mir klar, wieso Spiegel so bedeutend waren.

Unsere Protagonistin sehnt sich nach vielem, dass sie augenscheinlich durch Marla ermöglicht bekommt: Durch Marla lernt sie ebenfalls frei wie ein Windhauch zu sein, Menschen bieten zu können, was sie brauchen, um im Gegenzug überleben zu können. Sie lernt neue Leute und deren Geschichten kennen, liebt und genießt leidenschaftlich Musik. Dabei gibt sie ihre Wohnung, potentielle Arbeitsplätze, ihre Familie und alte Freunde auf, bis ihr nur noch ihre Leidenschaft für Musik und ihre Liebe zu ihrer neuen Heimatstadt bleibt. Anders als Marla wird unsere Protagonistin aber von ihrem parasitären Lebensstil zermürbt: Es strengt sie an, ihre Fassade aufrechtzuerhalten und zwischenzeitlich sehnt sie sich so sehr nach einer festen Bleibe, dass sie verzweifelt. Am schlimmsten aber ist, dass sie sich selbst nicht mehr ihr eigenes Spiegelbild sehen kann.

Der Spiegel als Symbol zeigt deswegen, worum es in diesem Buch geht: Was ist Freiheit und wie frei sind wir tatsächlich, wenn wir alles hinter sich lassen, was uns ausmacht?

Marla und unsere Protagonistin sind augenscheinlich frei: Sie brauchen kein Geld, sind an keine Menschen, Pflichten oder Verträge gebunden und können tun und lassen, was sie wollen. Diese Freiheit ist aber teuer, denn Marla und unsere Protagonistin können vieles erleben und vielen begegnen, ohne wirklich intime Beziehungen aufzubauen oder etwas aufzubauen, das ihnen Halt geben kann. Das bedeutet auch, dass sie kaum etwas haben, was ihnen eine Identität gibt.

Der Schreibstil ist ein Punkt, mit dem ich mich nicht anfreunden konnte.

Ich bevorzuge klare Satzstrukturen ohne grammatikalische Spielereien, wobei ich gar kein Problem damit habe, wenn der/die Autor*in hin und wieder mit der Grammatik spielt oder Neues ausprobiert. 

Der Schreibstil in“Königinnenreich” war mir aber oft zu viel und wirkte auf mich stellenweise so, als müssten die wenigen tatsächlichen Ereignisse im Buch mit Stilmitteln und grammatikalischen Spielereien kompensiert werden: Es gab viele Antithesen, Oxymorone, und Inversionen, aber auch kleine Sätze am Ende von Absätzen, die die Funktion hatten, das soeben gelesene auf eine tiefere Ebene zu ziehen. Diese Mittel sollten zeigen, wie losgelöst und entfremdet das Innenleben unserer Protagonistin ist – auf mich wirkte das aber Stellenweise kitschig.

Insgesamt ist “Königinnenreich” ein spannendes Buch – statt unsere Hauptfigur von einer Handlung in die nächste stürzen zu lassen, fließt die Geschichte durch die persönlichen Entwicklungen unserer Protagonistin weiter, die fast losgelöst von anderen Personen, Zeit und der Welt geschehen. 

Dadurch werden die innere Entwicklung und ihre Bedürfnisse unserer Protagonistin nach Halt und Zugehörigkeit geschickt thematisiert und zeigt eine interessante Perspektive auf Themen wie Freiheit und Identität, die schwer zu greifen sind. 

Der Schreibstil war deswegen wichtig, um die Handlung weiterzuführen, wobei ich mir einen gezielten Umgang mit den ausgewählten Stilmitteln gewünscht hätte.

Deswegen denke ich, dass “Königinnen” eher ein Buch ist, dass man mehr zum darüber Sprechen und Diskutieren liest, als zur eigenen Unterhaltung. Das liegt nicht nur daran, wie der Inhalt vermittelt wurde, sondern auch an der Thematik selbst. Gerade die Frage nach dem Preis für Freiheit und wie viel wir von uns selbst aufgeben würden, wenn wir uns von allem lösen, was uns als Menschen ausmacht, treibt zum Nachdenken an.

  • Autorin: Judith Kleibs
  • Titel: Königinnenreich
  • Verlag: Mosses Schroeter
  • Erschienen: 2022
  • Einband: Paperback
  • Seiten: 192
  • ISBN:978-394-178-022-4
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


    Wertung: 11/15 dpt


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