Schließt man die Augen und bewegt sich imaginär durch ein Museum oder eine Galerie, was würde man dort sehen? – Bilder verschiedener Künstler. Das ist sicher logisch und nachvollziehbar. Doch bewegt man sich näher auf die Bilder zu oder wirft man einen Blick auf das kleine weiße Schildchen, welches den Namen und die Epoche beschreibt, wird schnell ersichtlich, dass es sich um das Werk eines Mannes handelt. Bewegt man sich nun weiter durch dieses Kopfkino, das einzig mit Standbildern gesäumt ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch die weiteren Bilder von Männern stammen. Die Frage drängt sich auf, wieso selbst die puren Überlegungen zu Kunstwerken so unilateral geprägt sind.
In The Story of Art Without Men beschreibt die britische Kunsthistorikerin Katy Hessel ein solches Gedankenexperiment, dem sie sich selbst nach ihrem Besuch einer Kunstmesse im Oktober 2015 unterzog. Sie stellte fest und war erstaunt, dass sie nicht in der Lage war 20 Künstlerinnen aus dem Stehgreif zu nennen, dafür aber eine Reihe männlicher Vertreter. Dies bildete den Anstoß für das vorliegende Werk.
Hessel hatte gerade ihren Bachelorabschluss in der Tasche und auch hier wurde ihr bewusst, dass die Künstlerin Alice Neel, mit der sie sich in ihrer Arbeit eingehend beschäftigte erst mit 70 Jahren als bedeutende Künstlerin anerkannt wurde. Zwar wurde das Thema, das Frauen in der Kunstszene scheinbar keine Aufmerksamkeit finden bereits von Linda Nochlin in ihrem Essay „Why Have There Been No Great Women Artists“ thematisiert, doch geändert hat sich seitdem nicht viel. Ein Grund mehr für Hessel sich den Künstlerinnen dieser Welt zu widmen.
Die Gliederung, die die Autorin für ihr Werk wählt, ist dabei keine reine Abhandlung nach Epochen, die sie den Künstlerinnen zuschreibt. Sie gliedert ihr Buch in fünf große Abschnitte, in denen sie die Frauen zwar in die entsprechende künstlerische Strömung einordnet, aber auch die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Aspekte aufgreift, deren Einfluss die Frauen in ihrem jeweiligen Schaffen ausgesetzt waren und sind. Das schafft von Anfang an Nähe und es zeichnet sich bereits auf den ersten Seiten ein Gesamtbild ab, das beim Verstehen und Einordnen hilft, ohne mit einem breitgefächerten Wissen der Kunsthistorik ausgestattet zu sein.
So führt die Autorin bereits im ersten Abschnitt „Wegbereiterinnen“ zwei explizite Gründe an, die zu verstehen geben, warum uns bis heute so wenig weibliche Künstlerinnen bekannt sind. Diese sind, dass es ihnen schlicht an Möglichkeiten fehlte und sie zudem auch keine Anerkennung fanden. Stichhaltig und präzise belegt die Autorin ihre Darstellung der weiblichen Kunst vom 16. bis in das 19. Jahrhundert. Dabei verliert sie sich nicht in Ausschweifungen, sondern erklärt, dass unter anderem eine humanistische Bildung im Europa der Renaissance notwendig war, um überhaupt als Künstler anerkannt zu werden.
Ihre Begeisterung für den Detail- und Einfallsreichtum schildert Hessel dicht und stimmig. Dabei weiß sie genau, wo sie den Fokus bei der Interpretation der Werke zu setzen hat und bezieht sich stets auf die besondere Begabung der jeweiligen Künstlerin, die sie nicht selten durch ein Zitat zu Wort kommen lässt, und so gekonnt eine Art Vertrautheit zu der Zeit und den Umständen schafft, die die Künstlerin geprägt haben. So beschreibt sie das Bild „Trois femmes aux ombrelles“ (Drei Frauen mit Schirm) der Künstlerin Marie Bracquemond als „ein Gemälde, dass die Freude, Unabhängigkeit und Freundschaft feiert“ und versteht es zudem als Ausdruck einer Sehnsucht der Künstlerin selbst nach der Befreiung von den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit. Dies setzt sie direkt in den Kontext des Lebens von Bracquemond, die unter einem tyrannischen Ehemann zu leiden hatte und mit diesem Werk ihrem Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmtheit Ausdruck verlieh.
The Story of Art Without Men zeigt neben der Vielfalt der Künstlerinnen aus aller Welt auch die verschiedenen Kunstformen, die sich in den fünf Jahrhunderten, die das Buch umfasst, herausgebildet haben. Neben ihren Anmerkungen zu den Malerinnen, denen sich die Autorin mit Hingabe widmet, werden andere Darstellungsformen, wie die der Fotografie, Performancekunst oder auch Installationen mit demselben Engagement beachtet und rezipiert. Bemerkenswert sind hier die drei Frauenausstellungen, die aus den Diskussionen rund um die Black Artist Group hervorgingen, deren Ziel es war die „britische Kunst neu zu definieren”. In den Ausstellungen, in denen die Künstlerinnen mit verschiedenen Techniken experimentieren und diese kombinieren, lassen sich Malereien, Theateraufführungen, sowie Lyrik finden. Diese versprechen eine Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen mit Themen, die die KünstlerInnen betreffen.
Katy Hessel gelingt es, mit The Story of Art Without Men, fünf Jahrhunderte der weiblichen Kunst auf 512 Seiten wiederzugeben ohne sich dabei zu detailverliebt oder pathetisch zu zeigen. Jede der vorgestellten Künstlerinnen beschreibt sie mit einer Mischung aus nötiger Distanz und Leidenschaft für ihre Kunst. Hessel schafft dabei stets genug Raum für die eigene Interpretation der Werke und man ist gewillt sich abermals in das gedankliche Museum zu begeben, um zu prüfen, wieviel Künstlerinnen sich nun auf diesen kleinen weißen Schildchen neben den Gemälden finden lassen.
- Autorin: Katy Hessel
- Titel: The Story Of Art Without Men
- Übersetzerinnen: Marlene Fleißig, Astrid Gravert, Gabriele Würdinger, Dr. Maria Zettner
- Verlag: PIPER
- Erschienen: 10/2022
- Einband: Hardcover
- Seiten: 512
- ISBN: 978-3-492-05944-2
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