Gayl Jones – Corregidora (Buch)
Ein Meilenstein afro-amerikanischer Literatur
Unsentimental, brutal, ehrlich, schmerzhaft, schonungslos. So leicht es fällt, diesen amerikanischen Roman mit Adjektiven zu überhäufen, die seine explosive Kraft unterstreichen, so schwer fällt es andererseits, diesem Ausnahme-Werk in einer Rezension üblichen Umfangs gerecht zu werden. Der Versuch soll hier trotzdem unternommen werden, denn dieses Buch – jetzt dankenswerterweise durch den Kanon Verlag in einer deutschen Übersetzung dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht, verdient allergrößte Aufmerksamkeit.
Im Mittelpunkt der Handlung steht die Bluessängerin Ursa. Nach einem Streit mit Ehemann Mutt, in dessen Verlauf Ursa eine Treppe hinuntergestürzt ist, hat die Sängerin ihr ungeborenes Kind verloren und kann von nun an nicht mehr schwanger werden. Inwieweit der zur Gewalt neigende Mutt, den Sturz bewusst herbei geführt hat, bleibt offen. Ursa verlässt ihn. Barbesitzer Tadpole wird ihr nächster Ehemann. Aber auch diese Beziehung scheitert.
Immer wieder muss Ursa sich gegen männliches Anspruchsdenken zur Wehr setzen, um ihre Unabhängigkeit zu verteidigen und ihr selbstbestimmtes Leben als Künstlerin zu führen.
Jones‘ Roman ist in vielerlei Hinsicht ein literarisches Schwergewicht, das das Etikett „Klassiker“ absolut verdient.
Als Mehr-Generationen-Erzählung offenbart der Roman das historische Trauma, welches durch die Sklaverei verursacht wurde und noch heute die amerikanische Gegenwart prägt.
Die virtuos angelegte Komposition aus sich abwechselndem chronologisch erzählten Passagen und wie in Trance gesprochenen Erinnerungssequenzen, verleiht dem 1975 erstmals erschienenem Text eine universelle, ja man möchte in Anlehnung an den Bluesgesang seiner Titelfigur sagen: musikalische, Gültigkeit.
Ursa steht am Ende einer Reihe von mehreren Generationen Frauen, die aus der Sklaverei hervorgegangen sind. In Rückblenden erfahren wir das tragische Ausmaß ihrer Herkunftsgeschichte. Urgroßmutter, Großmutter und Mutter wurden vom brasilianischen Sklavenbesitzer Corregidora bereits als Mädchen vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen. Corregidora ist dadurch biologisch betrachtet sowohl Urgroßvater als auch Großvater von Ursa.
Eine juristische Aufarbeitung des historischen Verbrechens hat nie stattgefunden. Auch die klassische Geschichtsschreibung wird dem Ausmaß von Täterschuld und Opferleid nicht annähernd gerecht. Im Falle von Ursas Vorfahrinnen wurden die Aufzeichnungen, die die Verbrechen Corregidoras dokumentieren, vernichtet. So sind es die betroffenen Frauen selbst, die durch ihre Körper, ihre Existenz, die Vergangenheit und die Gräueltaten bezeugen.
„… die haben alle Dokumente verbrannt, Ursa, aber was sie ihnen in die Köpfe gepflanzt hatten, das ist nicht mitverbrannt. Wir müssen selbst ausbrennen, was sie uns in die Köpfe gepflanzt haben, so wie man eine Wunde ausbrennt. Außer das, was wir immer brauchten, um Zeugnis abzulegen, das müssen wir aufbewahren. Die Narbe, die noch da ist und Zeugnis ablegt. Die müssen wir aufbewahren, so sichtbar wie unser Blut.“
Seite 82
„Das Generationen machen“, das mündliche Übertragen der Geschichte von der einen Generation auf die nächste, ist für sie der einzige Weg, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten.
Mit Ursa, die keine eigenen Kinder mehr haben kann, entwickelt Jones eine Figur, die diese archaische Kette durchbricht. Durch die Kunst, in diesem Fall durch die Blues-Musik Ursas, öffnet sich ein neuer Weg, um das kollektive Trauma sichtbar zu machen.
Jones transferiert die orale Form des Erzählens in ihr Schreiben. Die mündliche Transparenz, die dabei entsteht, lässt einen die Lektüre besonders eindringlich und unmittelbar empfinden.
Dabei ist die Sprache, die Jones‘ Figuren aus dem Mund fließt, ist kein sogenannter Slang, kein klischeehaftes Echo einer literarischen Hochsprache, sondern ein völlig eigener Ausdruck. Die Sprache ihrer Protagonisten ist ebenso kraftvoll und authentisch wie selbstbestimmt. Im Nachwort spricht Übersetzerin Pieke Biermann über die enorme Herausforderung, dieser „neuen“ Sprache gerecht zu werden. Auch das Reproduzieren rassistischer Formulierungen innerhalb des Textes durch die Übersetzung wurde innerhalb des Verlags sorgfältig abgewogen. Man entschied sich dafür, abwertende Begriffe teils wiederzugeben, teils im Original zu überlassen, um der Brutalität der dargestellten Zeit gerecht zu werden.
Schmerz und Wut lasten schwer auf dem gesamten Roman. Jones porträtiert eine Gesellschaft, in der Schmerz und Wut einen tragischen Kreislauf bilden, aus dem es keinen echten Ausweg zu geben scheint. Doch zugleich sind Schmerz und Wut auch die Emotionen, in denen sich die Würde ihrer Figuren am deutlichsten spiegelt. Der Schmerz ist der Preis, den das Erinnern kostet. Aber durch die Erinnerung kann die Geschichte überwunden werden. Die Wut wiederum katapultiert die Protagonisten aus ihrer opferhaften Unschuld heraus. Sie verharren nicht in stummer Passivität. Sie gehen ihre eigenen Wege.
Corregidora ist auch ein Emanzipationsdrama. Ein großer feministischer Roman. Denn Jones präsentiert ihren Leser:innen eine Gesellschaft, die – weil sie schwarz ist – ganz unten steht. Wobei die Frauen den untersten Platz in der Hierarchie einnehmen. Frauen und Männer stehen sich wie unvereinbare Gegensätze gegenüber. Die Geschlechterrollen sind klar definiert. Sex und körperlicher Missbrauch sind ein Macht – und Unterdrückungsinstrument, durch das die Hierarchie unbarmherzig manifestiert wird.
Übersetzerin Biermann berichtet in ihrem Nachwort, dass keine geringere als Toni Morrison den Roman von Gayl Jones als Lektorin auf den Tisch bekam. Danach könne kein Roman über eine Schwarze Frau mehr sein wie vorher, soll die spätere Nobelpreisträgerin gesagt haben. Ein Statement, dem man nach der Lektüre von Corregidora ohne zu zögern zustimmen will.
Fazit: Lesen!
- Autor: Gayl Jones
- Titel: Corregidora
- Originaltitel: Corregidora
- Übersetzer: Pieke Biermann
- Verlag: Kanon Verlag
- Erschienen: August 2022
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 224 Seiten
- ISBN: 978-3985680399
Wertung: 15/15 dpt