Theodor Lessing – Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs (Buch)


Theodor Lessing – Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs (Buch)

Haarmann_Die Geschichte eines Werwolfs
© Verlag Projekt Gutenberg-DE

Fundierte Darstellung über den bekanntesten deutschen Serienmörder

1918. Der Weltkrieg ist zu Ende, vor allem junge Menschen sind verroht, es herrscht zudem bittere Armut. Hannover ist aufgrund seiner geografischen Lage, relativ mittig zwischen der Rhein-Ruhr-Region und Berlin gelegen, ein internationaler Durchgangs- und Schiebermarkt. 450.000 Einwohner zählt die Stadt, darunter 40.000 Homosexuelle. Vermisste sind an der Tagesordnung, allein im Jahr 1923 werden fast 600 Fälle gemeldet. Am 17. Mai 1924 wird ein erster Schädel nahe des Schlosses Herrenhausen gefunden, an Pfingstsonntag suchen hunderte Menschen nach Leichenteilen am Hohen Ufer. Bis Anfang Juli werden insgesamt über 500 Leichenteile von mindestens 22 Personen gefunden, da sitzt der vermeintliche Mörder bereits seit mehreren Tagen im Gerichtsgefängnis.

Friedrich „Fritz“ Haarmann, geboren am 25. Oktober 1879 in Hannover, ist der bekannteste Serienmörder Deutschlands. Fünfzehnmal ist er bei seiner Verhaftung vorbestraft, verbrachte ab 1900 mehr Zeit im Gefängnis als außerhalb. Meist allerdings wegen Diebstahl, Betrug, Hochstapelei und ähnlicher Vergehen; wegen sittlicher Straftaten überraschenderweise nur selten. Im Laufe der Zeit bescheinigen gleich fünf Irrenärzte, dass er geisteskrank sei. Dass er trotz zahlreicher Hinweise und Anzeigen erst spät gefasst wurde, lag auch daran, dass er jahrelang und durchaus erfolgreich als Spitzel für die Polizei tätig war. Vor dem Schwurgericht kommt es zur Anklage wegen Mordes in 27 Fällen, die Verhandlung beginnt am 4. Dezember 1924 und endet am 19. Dezember mit der Verkündung des Todesurteils wegen Mordes in 24 Fällen. Sein langjähriger „Freund“ Hans Grans wird wegen Anstiftung zum Mord in einem Fall ebenfalls zum Tode verurteilt.

Viele Bücher wurden über Fritz Haarmann geschrieben, der Schauspieler Götz George spielte ihn in dem Kammerspiel „Der Totmacher“, eine graphic novel erschien im Carlsen-Verlag. Bereits zu Haarmanns Lebzeiten schrieb der Publizist und Philosoph Theodor Lessing das vorliegende Buch, welches bis heute das Beste zu dem Thema ist. Es wurde mehrfach aufgelegt, die Rezension bezieht sich auf die im Jahr 2016 im Verlag Projekt Gutenberg-DE erschienene Fassung.

Das Original wurde noch zu Lebzeiten Haarmanns geschrieben

„Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ ist ein hoch interessantes, da sehr vielschichtiges Buch über Deutschlands berüchtigtsten Serienmörder. Es beginnt mit der Vorstellung der Stadt Hannover, ihrer Entwicklung nach Ende des großen Krieges, aus dem viele Menschen vor allem moralisch degeneriert zurückkehren. Es folgen die ersten Leichenteilfunde, die Verhaftung und anschließend ein Rückblick auf das Leben von Friedrich „Fritz“ Haarmann. Den zweiten Teil bildet der Gerichtsprozess sowie die Vorstellung der Opfer, die Verkündung des Todesurteils sowie eine abschließende Bewertung des Autors, welche in vielerlei Hinsicht vernichtend ausfällt. Vor allem am Gericht arbeitet sich Lessing eindringlich ab.

Weil aber die Wahrheit bedroht war, so wurde es fast zur Pflicht, folgerichtig durchzugreifen und den gesamten Rechtsfall klar und sachlich vor die Nachwelt zu bringen. Dazu aber kam ein zweites: In Stadt und Schauplatz gewurzelt, war ich der einzige, der Ort, Zeit, Personen und Zusammenhänge völlig übersehen konnte.

Der Fall des Fritz Haarmann ist in mehreren Hinsichten interessant. Es fängt schon damit an, dass er bereits im Juli 1896 wegen unzüchtigen Vergehen an kleinen Kindern in mehreren Fällen angeklagt und ihm bereits per Gutachten vom 6. Februar 1897 Geisteskrankheit und angeborener Schwachsinn attestiert wurde. Er kam in Irrenanstalten, wo ihm am 25. Dezember 1997 die Flucht in die Schweiz. Er lebt als Kunstmaler in Zürich und erlangt ein „Unbescholtenheitszeugnis“ von der Polizei. Auch sein familiärer Hintergrund ist beachtenswert. Als sechstes Kind wächst er in einer zerrütteten Familie auf. Die Mutter ängstlich und von einfachem Gemüt verstirbt Anfang des Jahres 1901, der Vater ist ein Weiberheld und überdies gewalttätig. Schlägereien sind nicht selten, selbst vor den Kindern wird nicht Halt gemacht. Es kommt zu Morddrohungen zwischen Vater und Sohn, man verklagt sich, auch mit den Geschwistern liegt Fritz in ständigem Streit. 

Kurioses Gerichtsverfahren mit „unfähigen“ Beteiligten

Dem Ersten Weltkrieg kann Fritz Haarmann entgehen, da er 1913 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Danach begeht er 1918 seinen ersten Mord, der allerdings erst sechs Jahre später aufgeklärt wird. Vor allem der Gerichtsprozess, von dem der Autor als Berichterstatter zeitweise ausgeschlossen wurde, da er zu kritisch informierte, ist bemerkenswert. Zeugen wird verboten, Verfehlungen der Polizei anzusprechen, Journalisten werden eingeschüchtert und allein der Gerichtspräsident entscheidet, wer eine der begehrten Platzkarten erhält. An der Polizeiarbeit gäbe es einiges zu kritisieren, denn nicht zuletzt die Tatsache, dass Haarmann viele Jahre als „Beamter“ und „Kriminaler“ ein hohes Ansehen hatte, wichtige Kommissare hatten regelmäßig mit ihm Kontakt, führte dazu, dass man sich ihn lange Zeit als Täter nicht vorstellen konnte. Es gab dennoch Anzeigen, bei Hausdurchsuchungen hatte Haarmann unglaubliches Glück. Hinzu kommt aber verstärkt, dass ein aggressives Wegsehen oftmals vorlag. Nicht wenige profitierten vom Handel mit Haarmann, der als Kleiderhändler sogar einen Gewerbeschein hatte. Bekanntlich handelte er aber zudem mit Menschenfleisch, welches unter anderem arglos in einer Gaststätte verwendet wurde.

Das Gerichtsverfahren, das Todesurteil steht längst vor Beginn fest, ist eine Farce. Es geht darum, die Verfehlungen der Polizei zu vertuschen, es soll nicht zu öffentlicher Unruhe kommen. Richter wie Anwälte sind Fehlbesetzungen und völlig überfordert oder um es mit Lessings Wort zu sagen „unfähig“; dennoch ist der größte Skandal womöglich, dass eine psychologische Bewertung des Falles vollständig unterblieb. Fünffach durch Gutachten für geisteskrank erklärt, aber dies spielt keine Rolle. Auch dies, ein Wahnsinn.

Wer sich für die damalige Zeit, Gerichtsprozesse, Justizirrtümer könnte man auch sagen, denn zumindest das Todesurteil gegen den Mitangeklagten Grans erscheint selbst aus der Distanz betrachtet offensichtlich ein Fehlurteil zu sein, oder für das Thema Serienmörder interessiert, sollte hier zugreifen. Das Buch ist problemlos erhältlich und selbst nach fast hundert Jahren noch immer gut zu lesen.

  • Autor: Theodor Lessing
  • Titel: Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs
  • Verlag: Projekt Gutenberg-DE
  • Umfang: 158 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: 2016 (Zuerst erschienen: 1925)
  • ISBN: 9783865116604
  • Produktseite


Wertung: 13/15 dpt


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