Garry Disher – Stunde der Flut (Buch)
Neuer Protagonist des Ausnahme-Autors
Januar 2000. Für Constable Charlie Deravin könnte es besser laufen. Das elterliche Haus in Menlo Beach steht zum Verkauf, die Scheidung ist in Sichtweite, Mutter Rose bereits ausgezogen. Da es finanziell hakt, hat sie einen Untermieter namens Shane Lambert, der allerdings erhebliche Probleme bereitet, so dass ihn Charlie mit Hilfe seines Bruders Liam kurzerhand vor die Tür setzt. Wenige Tage später verschwindet der neunjährige Billy Saul, ein Suchtrupp unter Leitung von Senior Constable Frances Bekker wird eingesetzt, auch Charlie hilft bei der ergebnislosen Suche. Am gleichen Abend, Charlie will endlich nach Hause, wird er von zwei Kollegen befragt, denn Rose Auto wurde in Tooradin gefunden, wo der Wagen gegen eine Toreinfahrt prallte. Zahlreiche Gegenstände von Rose liegen auf der straße verteilt, allein von Rose fehlt jede Spur. Angesichts der nahenden Scheidung und des unvermeidlichen Hausverkaufs gerät Detective Sergeant Rhys Deravin, Charlies Vater, ins Visier der Ermittler, zumal Lambert ein Alibi hat. Er saß wegen Trunkenheit im Gefängnis.
Dezember 2019 bis Februar 2020. Der Vermisstenfall Rose ist schon lange ein Cold Case, der niemanden mehr interessiert. Allein Charlie ist besessen von dem Fall, zumal er nicht glauben kann, dass sein Vater ein Mörder ist. Seine Ehe ging inzwischen in die Brüche, nur zur Tochter Emma hat er noch Kontakt. Unlängst sorgte ein Prozess gegen den angehenden Footballspieler Luke Kessler für Aufsehen, der seine damalige Freundin auf einem Parkplatz vergewaltigt haben soll. Kessler genießt einen guten Ruf, Vorurteile gegen sein Opfer beeinflussen die Jury und nur die Geschworene Anna Picard glaubt an Kesslers Schuld. Sie ermittelt eigenmächtig, wobei ihr Charlie hilft und sich dabei in Anna verliebt. Dies macht ihn bei seinem Team unbeliebt, denn der Prozess, kaum gestartet, muss mit neuer Jury neu aufgerollt werden. Es kommt zu einer Handgreiflichkeit gegenüber seinem Chef, Charlie wird suspendiert und stürzt sich mehr denn je in den Fall seiner Mutter. Lange passiert nichts, doch dann wird bei Ausgrabungsarbeiten eine Leiche entdeckt und ein Autofahrer fährt Anna und Charlie auf deren Fahrrädern absichtlich um.
Charlie Derivan ist ein interessanter, ambivalenter Charakter
Garry Disher, der australische Krimi-Altmeister, sollte jedem Krimifan inzwischen ein Begriff sein. Bereits vier Mal gewann er allein den Deutschen Krimipreis, zuletzt 2021 mit „Moder“ aus der Reihe um den Berufsverbrecher Wyatt. Auch seine Inspector-Challis- und Constable-Hischhausen-Romane überzeugten vollauf. Nun also ein neuer Protagonist: Charlie Deravin, der das Herz am rechten Fleck hat und sich dennoch oft selbst im Weg steht. Dies fängt beim angespannten Verhältnis zu seinem Bruder, der an die Schuld des eigenen Vaters glaubt. Die Ehe mit Emmas Mutter Jess ging vor fünf Jahren in die Brüche, da er ihr zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit schenkte. Mit Anna droht ihm nur der gleiche Fehler zu passieren. Auch das Verhältnis zu seinem Vater ist ungeklärt, denn wenngleich er von dessen Unschuld überzeugt ist und seit zwanzig Jahren obsessiv versucht, diese zu beweisen, so werden auch hier später leichte Unschärfen und Verwerfungen deutlich.
Zunächst passiert konsequenterweise nichts, denn die alten Spuren sind längst kalt, neue Hinweise gibt es kaum. So sucht Charlie – wie seit zwanzig Jahren – Shane Lambert, wohl wissend, dass dieser ein Alibi hatte. Auch alle weiteren Zeugen von damals sucht er erneut auf, klammert sich an die vage Hoffnung, es könnte sich eventuell ja doch noch jemand an irgendeine Kleinigkeit erinnern. Dass er sich damit bei den ermittelnden Polizisten, es gab ja besagten Leichenfund, nicht beliebt macht, versteht sich von selbst. Doch diesen wirft Charlie ja ohnehin vor, sie hätten eben genau dies nicht getan: ermittelt; im Fall seiner Mutter.
Die Polizisten sind das Gesetz – damals wie heute
Vor zwanzig Jahren zogen zahlreiche Polizisten wie Rhys Deravin und seine Kumpel Mark Valente und Noel Saltesh in die Gegend. Es ging wohl nicht immer mit rechten Mitteln zu, von der „Bullenmafia von Menlo Beach“ war die Rede. Man nahm die Dinge selbst in die Hand, feierte derweil exzessiv und blieb vor allem unter sich. Auch das Gebahren der aktuellen Ermittler gegenüber Charlie und Rhys ist alles andere als professionell. Arrogant, von oben herab, die Macht des Staates jederzeit präsent. Dies ist einer der spannenden Aspekte des neuen Romans von Disher, der erneut einen großartigen Plot ersonnen hat. Drei Geschichten in einer könnte man vereinfacht sagen, denn es gilt ja – neben dem laufenden Prozess gegen Kessler- das damalige Verschwinden von Rose und Billy Saul aufzuklären.
Disher lässt sich Zeit, stellt immer wieder die Landschaft in den Vordergrund und sorgt damit für viel Atmosphäre. Trotz der zunächst ruhigen Herangehensweise, nimmt die Handlung spätestens nach der Hälfte des Romans ordentlich Fahrt auf und bietet im Vergleich zu der Hirschhausen-Reihe deutlich mehr Action. Disher ist es, wenig überraschend, gelungen, mit einem frischen Protagonisten erneut zu überzeugen. Kann gerne in Serie gehen.
- Autor: Garry Disher
- Titel: Stunde der Flut
- Originaltitel: The Way it is Now. Aus dem Englischen von Peter Torberg
- Verlag: Unionsverlag
- Umfang: 353 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: August 2022
- ISBN: 978-3-293-00584-6
- Produktinformation
Wertung: 13/15 dpt