Alternativ #2 – Mut zur Handarbeit


Kolumne Alternativ

Alternativ #2 – Mut zur Handarbeit

Vorab: Ich spreche in dieser Kolumne von weiblicher Masturbation und beziehe mich deswegen auf alle FLINTA*-Personen.
FLINTA*: Frauen, Lesben, Inter, Non-Binary, Trans und agender* 

Vor kurzem durfte ich “Mit Fingerspitzengefühl” von Julia Pietri lesen (Rezension hier) und musste mich einigen (un-)angenehmen Fragen stellen, die mit weiblicher Masturbation zusammenhängen.

Das Buch selbst thematisiert die weibliche Masturbation so, wie ich es selten zuvor erlebt habe: Statt mir beim Lesen aufzuzwingen, was vermeintlich “normal” oder “richtig” ist, wurden sechstausend Frauen zu Masturbation befragt – oder spezifischer: wie sie es sich machen.

Statt “die” Wahrheit der weiblichen Lust zu predigen, wurden Erfahrungen gesammelt, geordnet und für die Lesenden aufbereitet. Auch die Rolle von Stress und Missbrauch wurden in diesem Zusammenhang thematisiert.

Währenddessen ist mir immer wieder aufgefallen, wie unterschiedlich Masturbation in den Medien, aber auch in unserem Alltag, thematisiert wird: Von vorneherein hat Julia Pietri nämlich klargemacht, dass sie absichtlich ein Tabuthema anspricht und weibliche Masturbation selbst ein kleiner Akt der Rebellion ist. Denn wie oft werden wir überhaupt mit Lust und Sexualität im Alltag konfrontiert? Am ehesten in Sitcoms oder American Pie, in dem sich über die Erektion der pubertierenden Jungs lustig gemacht wird. Mädchen wiederum scheinen von Lust und Sexualität vollkommen befreit zu sein.

Aber wieso ist weibliche Masturbation so ein besonderes Thema?

Wie bei den meisten Themen ist nicht Masturbation das Hauptproblem, sondern Teil von etwas viel Größerem: Und zwar weibliche Sexualität als Ganzes.

Weibliche Sexualtät in Film, Fernsehen und Werbung wirkt immer wie zerkaut und ausgespuckt: Mal nutzen die Frauen ihre Sexualität diabolisch aus, um ihre eigenen Ziele zu erreichen oder ihre Sexualität ist mit so viel Scham verbunden, dass nicht mal offen über die Periode gesprochen werden kann. Wenn Frauen in den Medien überhaupt Bedürfnisse haben…

Dieses Phänomen setzt sich auch im Alltag fort, denn wir reden davon, die Jungfräulichkeit zu “verlieren”, haben Angst davor zu einladend zu wirken oder wir schämen uns gleich für unsere Körper.

Die weibliche Lust, die Befriedigung der eigenen Fantasien und auch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben geraten so vollkommen in den Hintergrund.

Dementsprechend ist es kein Zufall, dass der Orgasmus-Gap* (also die statistische Erfassung, wie viele Orgasmen Männer und Frauen durchschnittlich in unterschiedliche Beziehungskonstellationen haben) so hoch ist und erst seit ungefähr zwanzig Jahren wirklich klar ist, wie die Klitoris tatsächlich aussieht**. 

Aber was bedeutet das alles jetzt für uns? Zwei Dinge! Erstens: Wenn wir uns die Statistiken des Orgasm-Gaps anschauen, dann sehen wir klar und deutlich, dass es sich bei dem Sexualitätsproblem hauptsächlich um ein “Hetero-Problem” handelt. Queere Menschen haben öfters Orgasmen in queeren Beziehungen und eine offenere Kommunikation über ihre Bedürfnisse, was sich so auch in queeren und feministischen Medien widerspiegelt.

Zweitens: Frauen wachsen scheinbar mit anderen Erwartungen hinsichtlich ihrer Sexualität auf, die dafür sorgen, dass sie weniger Orgasmen bekommen oder sich nehmen.

Frauen werden von klein auf alltäglich mit unterschiedlichen und gegenteiligen Bildern konfrontiert: Mal ist ihre Sexualität gefährlich und mächtig oder sie findet ihre Erfüllung nur in einer liebevollen Beziehung, für die sie sich willig und hoffnungsvoll aufspart – gerade, wenn es das erste Mal ist, was sonst verschwendet wird! Der gemeinsame Nenner ist dabei immer der ideale Mann (der wahrscheinlich selbst unter viel Leistungsdruck steht) – entweder als Verführter oder als Eroberer. Sex, Leidenschaft und Körperlichkeit sind dabei nie ein Selbstzweck oder etwas, an dem sich selbst erfreuen kann. 

Auch wird man ständig mit Körperidealen konfrontiert, die einen verunsichern – meistens sind die Frauen in Film, Fernsehen und Instagram wohlgeformt und hellhäutig. Die “Bikini-Zone” ist glatt rasiert und keine Delle ist zu sehen. Deswegen ist es auch kein Wunder, dass immer mehr Jugendliche mit sich selbst und ihrem Aussehen Probleme haben, seit dem sie Instagram konsumieren***.

Und zu guter Letzt: Pornos. Wie oft sehen wir, dass das Vorspiel nur ein Punkt auf der To-Do-Liste ist, um die Frau “bereit” zu machen. Danach wird schnell in akrobatischen Positionen rumgehämmert, bis der leicht zu veranschaulichen männliche Orgasmus erreicht ist. Frauen haben währenddessen die Aufgabe willig zu wirken – Initiative gibt es nur, um Männern irgendwelche Fantasien zu erfüllen.

Frauen wachsen mit dem Verständnis auf, dass ihre Sexualität nicht ihnen gehört: Entweder sind sie ein Lustobjekt, das gut zu vermarkten ist oder sie verwenden ihre Sexualität, um ihre Ziele zu erreichen. Masturbation und Sex geschehen nie zum Selbstzweck, sondern werden so dargestellt, dass andere dadurch ihre eigene Lust befriedigen können.

Deswegen ist Masturbation und die Kommunikation der eigenen Wünsche tatsächlich ein rebellischer Akt, denn sie zeigen, dass man über seinen eigenen Körper und das eigene Leben bestimmen will. Sex, Lust und Körperlichkeit sind nämlich ein schönes Gefühl für alle, die sie empfinden können oder wollen.

Deswegen: Habt Mut zu Handarbeit!

Denn woher soll man wissen, was man mag oder nicht mag, wenn man es nicht selbst herausgefunden hat? In der Realität wird man nämlich schnell mit der Situation konfrontiert, dass der/die Partner*in nicht die eigenen Gedanken lesen kann und uneindeutiges Seufzen und Stöhnen keine ordentliche Kommunikation ersetzen kann.

Wäre es dann nicht viel schöner, wenn man sagen kann, was man wie will?

Und ist es nicht interessant herauszufinden, was es alles am eigenen Körper gibt, von dem man noch nicht weiß?

P.S. weil ich es wichtig finde: Auch Männer leiden unter viel Leistungsdruck, Selbstzweifel und kranken Idealen, die so auch psychischen Druck ausüben. Nur, weil Männer scheinbar die dominante Rolle spielen, heißt das nicht, dass sie erfüllter sind, sondern ihre Benachteiligung anders erfasst werden muss.

Links/ Quellen:

*Frederick, D.A., John, H.K.S., Garcia, J.R. et al. Differences in Orgasm Frequency Among Gay, Lesbian, Bisexual, and Heterosexual Men and Women in a U.S. National Sample. Arch Sex Behav 47, 273–288 (2018).

** “Mit Fingerspitzengefühl” Julia Pietri

***”Instagram durch die Augen der Rezipierenden: Die Rolle digitaler Inszenierungen von Influencerinnen und Influencern auf Instagram für das Selbstkonzept von jungen Frauen”, Masterarbeit von Melanie Lachmann

Orgasm Gap: Die Ungerechtigkeit im Bett  | Campus | ARD alpha | Fernsehen | BR.de


1 Kommentar
  1. Danke für den Beitrag!
    Wie sehr die männliche Sexualität im Vordergrund steht, erkennt man auch daran, dass überall fröhlich (erigierte) Penisse hingekritzelt werden. Doch wo bleibt die gekritzelte Vulva? Oder dass in Schulbüchern von der “erbsengroßen” Klitoris die Rede ist, diese dabei aber an die 11-12 cm groß ist.

    Es bleibt viel zu lernen über die weibliche Sexualität.

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