Miriam Wittig – An der Grasnarbe (Buch)


Miriam Wittig – An der Grasnarbe

Sinnliches Spracherlebnis

Coverbild: An der Grasnarbe (c) Suhrkamp

Es bleibt etwas unklar, mit welchen Erwartungen Noa, die Ich-Erzählerin in Wittigs Debütroman „An der Grasnarbe“ ihre Auszeit in Südfrankreich antritt. Die junge Frau hat der ungenannt bleibenden Großstadt den Rücken gekehrt, um als ehrenamtliche Hilfskraft auf dem Bauernhof eines deutschen Aussteigerpaares zu helfen. Noa leidet an Panikattacken, die sie in der südfranzösischen Abgeschiedenheit überwinden will. Sie fügt sich schnell und unkompliziert ins harte ländliche Leben ein. Sie freundet sich mit der 11-jährigen Tochter Jade an. Sukzessive verliert das Großstadtleben an Einfluss auf sie.
Doch obwohl Noa vom Wunsch getrieben wird, anzukommen und Teil einer Gemeinschaft zu werden, bleibt sie auch in der neuen Umgebung nicht viel mehr als ein Gast auf Zeit. Hin und her gerissen zwischen dem Heimweh nach ihrem alten Leben und der offen bleibenden Frage danach, was sie eigentlich sucht, steht sie am Ende von Wittigs Roman an einem weiteren Anfang.

Wittig zeichnet uns eine Protagonistin, die ihren Platz nicht wirklich findet. Die ihr Fremdsein nicht überwinden kann und damit auch den Leser*innen gegenüber immer auf Distanz bleibt.

Damit ist sie nicht die einzige: Auch das Aussteigerpaar Ella und Gregor wirkt nicht als ob es seinen Lebenstraum lebt. Der Alltag mit Schaftzucht und Landwirtschaft erscheint eher wie ein ständiger Kampf gegen die Zeit und die Unbilden des Klimawandels. Noa spürt die permanente Überforderung des Paares, das mehr aus Trotz und mangels anderer Möglichkeiten denn aus Überzeugung an seinem alternativen Lebensstil festhält.

Wittig schildert die Arbeitsabläufe ungeschönt. Hier liegt die große Stärke des Romans:
Die Autorin erzeugt durch ihre Sprachkraft eine zum Greifen nahe Authentizität, die völlig ohne weitere Effekte auskommt. Wittig beschreibt nicht, sie spricht die Sinne ihrer Leser*innen direkt an. Die Lektüre wird zum sinnlichen Erlebnis.

Dabei romantisiert Wittig nie. Sie lässt der Natur ihr unwirtliches Gesicht. Die Natur wird nicht zum Ideal erhoben, das mit einer höheren Bedeutung unterlegt wird. Mensch und Natur stehen sich gegenüber. Der Wunsch, eine Einheit, ein harmonisches Verschmelzen, zu erzeugen, wird als vergebliches Unterfangen dargelegt.

Leider spiegelt sich die Ziellosigkeit der Protagonisten auch in der Handlung wider. Die innere Wandlung der Hauptfigur bleibt aus. Vergeblich wartet man als Leser*in auf prägende Ereignisse, die dem Plot eine Struktur, einen Spannungsbogen oder eine Richtung geben.

So wie es unklar bleibt, was Noa aus ihrem Leben eigentlich machen will, so verläuft auch die Handlung ohne spürbare Höhepunkte. Und dort, wo sich das eine oder andere dramatische Ereignis andeutet, wird es von der Autorin sofort in die Kulisse integriert. Alles was passiert fließt in die Umgebung ein. Das deskriptive Element überwiegt die individuelle Aktion.

Ohne Frage: Das ist ganz klar so gewollt. Wittig geht dabei ebenso konsequent wie stimmig vor. Die Botschaft, die sie dadurch transportiert ist deutlich: Der moderne Mensch ist noch weit entfernt von einer befriedigenden Lösung, wie er sich in Einklang mit der Natur positionieren kann.

Zivilisationskritik blitzt in der Handlung immer wieder durch. Themen wie Alltagsrassismus und Klimakrise werden benannt und auch an konkreten Beispielen in die Erzählung integriert. Aber so richtig andocken können diese Themen nicht. Sie bleiben Beiwerk, die Handlung wird ihrer Bedeutung nicht gerecht und so erscheint der Umgang mit ihnen relativ blutleer. Ein Manko, dass vielleicht der guten Absicht der Autorin geschuldet ist, diese wesentlichen Themen nicht außen vor zu lassen. Doch in der Selbstfindungsgeschichte um Protagonistin Noa werden diese aktuellen Bezüge leider nicht mehr als im Ansatz widergespiegelt.

Fazit: „An der „Grasnarbe überzeugt vor allem durch die starke Sinnlichkeit, die von Wittigs Schilderungen ausgeht. Wittigs Erzählweg führt über die von ihr erzeugte Atmosphäre. Die südfranzösische Landschaft wird dadurch zu mehr als nur einer Kulisse, zu mehr als nur zu einem Handlungsrahmen. Sie steht nicht weniger im Fokus als die Protagonistin Noa.
Die Distanz zwischen Mensch und Natur wird zwar nicht überwunden, Wittig bietet ihren Leser*innen trotzdem Optimismus an. Noas Aufbruch am Ende kann durchaus als ein weiterer Versuch gelesen werden, sich nicht geschlagen zu geben auf der Suche nach einem Weg, um sich mit der Natur in Einklang zu bringen.

  • Autorin: Miriam Wittig
  • Titel: An der Grasnarbe
  • Verlag: Suhrkamp Verlag
  • Erschienen: April 2022
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 189 Seiten
  • ISBN: 978-3518430620


Wertung: 11/15 dpt


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