Ralph Knobelsdorf – Des Kummers Nacht (Buch)


Ralph Knobelsdorf – Des Kummers Nacht (Buch)

Geschichtsträchtiger Serienauftakt

Des Kummers Nacht
© Lübbe

Berlin, 1855. Die Studenten Wilhelm von der Heyden und Johann Schmidt sitzen beim Frühstück als sie von einem Knall aufgeschreckt werden. Im Haus gegenüber gab es eine Explosion, eine junge Frau fiel aus dem Fenster, wobei sie in einen Zaun stürzte und von diesem aufgespießt wurde. Wilhelm begibt sich auf der Suche nach weiteren Verletzten in das Haus, während Johann die Polizei verständigt. Kriminalsekretär Vorweg ist nur wenig begeistert, Wilhelm am Tatort vorzufinden. Da Kriminaldirektor Herford ebenfalls am Ort des Geschehens auftaucht, entspannt sich die Situation, denn dieser ist ein enger Freund von Wilhelms Vater, einem Landadeligen. Wilhelm zeichnet eine besonders hohe Auffassungsgabe aus, so dass Herford kurzerhand Wilhelm und Johann zu Kommissaren ernennt, was ihm im Fall von Wilhelm ohnehin vorschwebte. Nicht unbedingt zur Freude von Vorweg.

Ich bin nicht glücklich darüber, dass junge Männer frisch von der Universität kommen, sich in den Gesetzen gut auskennen mögen, aber nicht die leiseste Ahnung davon haben, was auf den Straßen passiert oder was genau die Arbeit der Polizei umfasst. Und doch sind diese Absolventen plötzlich Vorgesetzte von altgedienten Polizisten, die ihr Handwerk mühsam erlernt und trotzdem keine Chance auf eine weitere Beförderung haben. Ganz ehrlich? Das stinkt mir gewaltig.

Bei der Verstorbenen handelt es sich um eine österreichische Adelige, Beatrice Gräfin Wassilko von Kerecki, die mit ihrem Verlobten, dem ebenfalls aus Österreich stammenden Zinkfabrikanten Josef Baron Holly auf Mersdorf zusammenlebte. Schon scheinen politische Verwicklungen zu drohen, doch zunächst stehen die Ermittler vor der Frage, wem das vermeintliche Attentat galt? Der Sprengsatz detonierte im Arbeitszimmer des Barons, der sich aber aufgrund eines Unfalls in der Charité befindet. Wenig später übergibt Franz Karl von Brenkendorff, Mitarbeiter im Innenministerium, der Polizei ein Päckchen, welches er vor seiner Haustür fand. Dieses enthält Auszüge aus einer Art Manifest, in dem es um die zukünftige Unabhängigkeit der Bukowina geht; jenem Grenzgebiet zwischen Österreich und Russland, welches einst Teil des Fürstentums Moldau war. Ein weiterer Briefauszug deutet zudem auf Aktivitäten der Freimaurer hin, die die preußische Thronfolge beeinflussen möchten. Es geht um nichts Geringeres als um einen Aufruf zum Hochverrat.

Doch wie sind die Zusammenhänge, wie lassen sich internationale Komplikationen vermeiden und wie die Zusammenarbeit mit der Politischen Polizei, für die Franz Karl, einst bester Freund Wilhelms aus Kindertagen, arbeitet, vermeiden, denn zwischenzeitlich sind sich die beiden verhasst. Warum weiß Wilhelm bis heute nicht, außer dass es mit einem ominösen Unfall vor langer Zeit zu tun hat.

Berliner Stadtgeschichte, Entwicklung der Polizei und Hohe Politik

Über sechshundert Seiten umfasst der Debütroman von Ralph Knobelsdorf, der einst die Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert studiert hat. Dies merkt man dem Buch über weite Strecken an, denn immer wieder kommt es zu „Auszeiten“ von der Krimihandlung, da die politische Gemengelage dargestellt wird. Diese ist geprägt vom Krimkrieg, in den Österreich womöglich eintreten wird, Preußen sich aber aus allem raushalten möchte. Auch die Revolution von 1848/49 ist keineswegs vergessen und die Thronfolge will ebenfalls behandelt sein. So kommt es beispielsweise zu einem „Gastauftritt“ von Otto von Bismarck, der als preußischer Gesandter am Bundestag in Frankfurt die politischen Zusammenhänge erklären darf.

Die Entwicklung der Polizei und deren Arbeit wird ebenfalls sehr intensiv und anschaulich vorgestellt. Diese befindet sich noch in den Anfängen, bei denen vor allem Dr. Wilhelm Stieber zu erwähnen ist, wenngleich dieser ebenfalls nur als Nebenfigur mitwirkt. Vom Erfinder des preußischen Geheimdienstes wird aber womöglich in weiteren Bänden noch verstärkt zu lesen sein. Nicht zuletzt spielt die prosperierende Stadt Berlin eine farbprächtig-pulsierende Kulisse.

Berlin hat derzeit fast eine halbe Million Einwohner, von denen etwa zwei Drittel im Einwohnermeldeamt und den Polizeiakten registriert sind. Davon sind etwa zehntausend Prostituierte, achtzehntausend angebliche oder tatsächliche Dienstmädchen, viertausend Bettler, zwölftausend Verbrecher unter Polizeiaufsicht, ebenso viele Illegale ohne Aufenthaltserlaubnis und zwanzigtausend Weber. Und die Aufzählung ist nicht vollständig, meine Herren.

Wie gesagt, es entstehen durch diverse Einschübe einige Längen im Krimiplot, allerdings kann Geschichtsunterricht auch kaum spannender sein. Man liest weit mehr als „nur“ einen Krimi und wird zugleich über die Ereignisse zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin und teilweise in Europa umfassend informiert. Wer derartige Romane mag, kann bedenkenlos zugreifen. Allein die Auflösung kommt, wie so oft, etwas „plötzlich“. Gleichwohl: Trotz des nicht unerheblichen Buchumfangs eine kurzweilige und in jeder Hinsicht empfehlenswerte Lektüre.

  • Autor: Ralph Knobelsdorf
  • Titel: Des Kummers Nacht
  • Verlag: Lübbe
  • Umfang: 623 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: August 2021
  • ISBN: 978-3-7857-2730-0
  • Produktseite




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