All jene, die den Sender MTV noch als das kennen, was er einst war, nämlich ein reiner Musiksender, ganz ohne Klingeltonwerbung und schlechte Reality-Soaps, werden sich ganz sicher noch an den smarten, warmherzigen Moderator Steve Blame erinnern, der neben seiner Show “Take The Blame” vor allem als das Gesicht der MTV News bekannt war. Sobald das gesicht irgendwo in Fernsehen oder Internet auftaucht, hallen sie bereits irgendwo im Hinterkopf nach, die Eröffnungsphrasen »Hi, Steve Blame here with MTV News.« und der Abschiedssatz »I see you soon, and have a good one.«
Nachdem der 1959 in Chelmsford geborene Brite nach sieben Jahren MTV Europe im Jahr 1994 nach Köln zog, um dort VIVA Zwei mit aufzubauen, war nach Zerwürfnissen mit Gründer Dieter Gorny zwei Jahre später das Kapitel Viacom abgeschlossen. In dieser knappen Dekade Musikfernsehen führte Blame mit unzähligen großen Musikern Interviews, von Frank Zappa bis David Bowie, von Madonna bis Kylie Minogue, von Elton John bis Stevie Wonder, von Whitney Houston bis Dave Gahan – er hatte sie alle am Mikrofon.
2002 folgte dann noch ein Intermezzo beim bis 2007 sendenden luxemburgischen Sender Tango TV (später T.TV), wo er Programmdirektor war und maßgeblich beim Senderaufbau mithalf, bevor er dem Sender noch vor Sendebeginn den Rücken kehrte. Weitere verantwortungsvolle Medienjobs im Hintergrund folgten, wobei er vor allem für die Entwicklung von TV-Formaten verantwortlich zeichnet.
Im Grunde liest sich all das so, als sei Blame ein durchweg erfolgreicher, glücklicher, in den Medien sein Zuhause gefunden habender Mensch gewesen, doch in all den Jahren ging der stets geerdet wirkende, charmante Insulaner durch eine harte Zeit. Ein Teil davon war sein Coming-Out, als er endgültig kein Geheimnis mehr aus seiner Homosexualität gemacht hat. Auch Drogen wurden zunehmend zu einem ernsthaften Problem – erst spät begriff Steve Blame, dass die bewusstseinserweiternden Substanzen nichts weiter waren als eine Isolationsglocke, die das Leben bestenfalls temporär erträglich machte. Der weg aus all den kleinen Krisen, die in der Summe zu einer großen wurden, war schwer und erschöpfend und verlangte ihm einiges an Selbstreflexion und Vergangenheitsbewältigung ab.
Den Anfang machte im Jahr 2011 sein erstes autobiographisches, im Titel bereits so ziemlich alles sagende Buch “Geting Lost Is Part Of The Journey: MTV, Deutschland und ich”, das ihn laut eigenen Aussagen sehr verändert hat. Mit “Emotionale Vaseline” geht Blame noch einmal ein ganzes Stück weiter und blickt noch tiefer in sich selbst, und auch diese intensivierte Introspektive hat ihn als Menschen noch weiter geprägt und sein Verständnis von sich selbst einmal mehr verstärkt.
Im Vorwort erläutert Steve Blame das Motiv seines Buches, spricht Individualität und Erfahrungen an, erzählt davon, wie er zahlreiche seiner Interviewbegegnungen, welche in ihrer Urform auch auf Spiegel Online zu sehen sind, noch einmal hat Revue passieren lassen und stellt hierbei fest, dass es das Interview mit Tina Turner im Mai 1995 war, das ihn auf den Begriff “Emotionale Vaseline” brachte, sozusagen der Schmierstoff für das effektive Laufen der kreativen Maschine, gefüttert von Kreativtreibstoff in Form von schlechten Erfahrungen, Einsamkeit, Verlorensein, physischen und psychischen Qualen.
Eine große Rolle bei der Wiederaufbereitung der Vergangenheit und der Selbstsuche Blames spielt in diesem zweiten Buch auch seine Mutter, zu der er im Monat jeweils einen ganzen Tag lang fährt, um ihr das Essen für dreißig Tage zuzubereiten, und die tiefgründigen Gespräche, die er mit ihr führt, bewirken gerade an jenem im Buch geschilderten Tag sehr viel in ihm, wie ihm bewusst wird. Eine Rückblende auf sein legendäres Interview mit Stevie Wonder folgt.
Anschließend wird vier Wochen rückwärts gespult, als sich Blame in einem Restaurant mit dem Buchautor, Redakteur, spirituellen Dienstleister und Aktivisten Sebastian Gronbach und dem Musiker und Psychoanalytiker Dr. Guido Dossche trifft, um mit den beiden über ebendiese emotionale Vaseline zu sprechen. Was noch ein wenig steif beginnt, entpuppt sich im Laufe der folgenden Kapitel sehr bald als ein recht ungezwungener, aber umso inhaltsschwangerer Talk, der Blame einiges abverlangt, denn inmitten all der humorvollen Bemerkungen, unterhaltsamen Anekdoten (Morten Harket/A-Ha und die Autoreparatur) und einigen Anflügen von Ironie geht Blame sich selbst auf den Grund, sucht in erzählerischen Rückblenden nach Parallelen zu den Stars, mit welchen er Interviews geführt hat und sucht seine eigene emotionale Vaseline, sprich das, was ihn persönlich an Negativa dazu gebracht hat, so zu werden, wie er war und heute ist.
Der Erzählstil während des Restaurantaufenthalts gleicht beinahe einer Niederschrift einer Dokumentation, denn einmal wird von Steve Blame in der dritten Person erzählt, wie er beispielsweise die Straße entlang in Richtung Restaurant geht, dann liest man ihn noch mal als unterbrechende und erzählende Stimme aus dem Off, und als dritter Erzählwinkel wird das Dreiecksgespräch noch einmal quasi wortgetreu wiedergegeben.
Die Gespräche und die Gedankengänge tragen ein hohes Maß an Ehrlichkeit in sich, und man merkt, wie sehr Blame seine eigenen Gedanken und Folgerungen beschäftigt haben, denn in diversen Passagen wohnt den Zeilen eine Emotionalität inne, die den Leser vereinnahmt – und nicht nur das: “Emotionale Vaseline” bereichert sein Inneres, öffnet im Kopf neue Türen, bietet neue Blickwinkel und strotzt von einer Menschlichkeit, die herzerwärmend ist.
Das Buch ist zu keiner Sekunde eine Ego-Show, sondern eine intensive Selbstanalyse, die Suche nach einer Erklärung, nicht etwa eine Abhandlung seiner Laufbahn. Vielmehr hinterfragt sich hier ein fragiler Mensch, der seinen Humor nicht selten dafür eeinsetzt, um sich selbst zu schützen und somit für kurze Zeit eine Maske zu tragen. Eine Maske, wie sie auch viele der welterfolgreichen Musiker tragen. Eine Maske, wie sie durchaus auch jeder von uns trägt, wenn er das Haus verlässt.
Schön an diesem zweiten, übrigens selbst verlegten Werk ist, dass man permanent das Gefühl haben darf, Steve Blame hätte auch einen selbst eingeladen. So als wende er sich einem zu. So als säße man mit Gronbach, Dossche und Blame gemeinsam am Tisch und sei der stille Zuhörer – und das verleiht diesem Buch einen gewissen Zauber, der einen einfängt.
Inhaltlich gibt es demnach nichts zu bemängeln, denn mehr Seelenstriptease, gemischt mit einem Gefühl starker Verbundenheit, geht kaum noch. Eher sind es ästhetische und technische Unwuchten, die den Lesegenuss hier und da mal ein wenig schmälern. Zum einen schien das Lektorat nicht in Form gewesen zu sein, denn einige Fehler wurden schlichtweg übersehen, andere sind – so sieht man es eben auch noch in schwarz/weiß – noch farbig markiert und unkorrigiert geblieben. Auch wirkt das Buch durch die großen Zeilenabstände manchmal etwas sehr auseinandergezogen, was gerade bei langen Texten etwas anstrengend wirkt. Doch diese Mankos sind letztendlich nicht groß genug, um “Emotionale Vaseline” ernsthaft Qualität abzusprechen.
Cover © Eigenverlag via CreateSpace
- Autor: Steve Blame
- Titel:
Emotionale Vaseline – Wie Popstars ihre offenen
Wunden in Treibstoff für Kreativität umwandeln - Originaltitel: Emotional Vaseline
- Übersetzer: Jenny Merling
- Verlag: Eigenverlag via CreateSpace
- Erschienen: 23.03.2013
- Einband: Paperback
- Seiten: 250
- ISBN: 978-1-482-78391-9
- Sonstige Informationen:
- Webseite zum Buch mit Erwerbs- und Downloadmöglichkeiten
- Facebook-Auftritt zum Buch
Wertung: 12/15 dpt