René Anour – Die Totenärztin: Goldene Rache (Buch)
Dr. Fanny Goldmann ist Medizinerin und assistiert in der Pathologie. Wir schreiben das Jahr 1908, Schauplatz der Handlung ist Wien. Der vorliegende Band „Goldene Rache“ erschien im Oktober dieses Jahres und ist nach „Wiener Blut“ der zweite Teil einer angekündigten Trilogie um die junge Totenärztin.
Autor René Anour verleiht seiner Protagonistin die Fähigkeit, „Tote zum Sprechen zu bringen“, wie er sagt – natürlich nur im übertragenen Sinn. Die talentierte Medizinerin Fanny vermag es immer wieder, an den Leichen, die zur Autopsie in der Wiener Pathologie eingeliefert werden, Details zu entdecken, die keinem ihrer Kollegen aufgefallen wären. So schafft sie es, versteckte Hinweise zu lesen und mithilfe der entdeckten Zusammenhänge spannenden Kriminalfällen auf die Spur zu kommen. Um ernst genommen zu werden, muss sie als Frau besonders hart arbeiten und ihr Fachwissen ständig unter Beweis stellen. Ihr Chef nennt sie „Fräulein“ statt sie korrekt mit dem ihr zustehenden Doktortitel anzusprechen und verwehrt ihr als Frau offiziell den Zugang zu den teuren Mikroskopen im Institut. Glück hat sie hingegen mit ihrem Kollegen Franz, der sie als vollwertige Mitarbeiterin akzeptiert und ihr die selbstständige Obduktion der ein oder andere Leiche anvertraut, obwohl sie eigentlich nur assistieren sollte.
Fanny lebt mit ihrem Vater zusammen, um den sie sich nach einem Schlaganfall kümmert. Ab und zu taucht ihre Tante Agathe auf der Bildfläche auf und kritisiert Fannys Haushaltsführung und das Nichtvorhandensein eines passenden Ehemanns, denn Fanny stürzt sich lieber leidenschaftlich in ihre Arbeit. Damit ist ihre Lebensführung als Frau am Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus ungewöhnlich, was den Krimi handlungstechnisch von vielen anderen abhebt:
Im vorliegenden zweiten Band der Totenärztin findet Fanny Zettel an den Leichen, die sich mit rätselhaften Botschaften speziell an sie zu richten scheinen. Die Leichen haben auf den ersten Blick nichts gemein, auf den zweiten entdecken Fanny und Franz allerdings seltene Parasiten, die von den Körpern Besitz ergriffen haben. Was hat all das zu bedeuten?
Direkt zum Einstieg der Handlung wird klar: Es gibt eine Vorgeschichte. Fannys Freundin Tilde ist verschwunden und Fanny ist sich sicher, dass ihr Widersacher, Graf Waidring dahintersteckt. Doch die Polizei nimmt sich aufgrund mangelnder Beweise der Sache nicht an und sogar Polizist Max, mit dem Fanny zarte Bande geknüpft hat, kann seine Kollegen nicht überzeugen, der Sache nachzugehen. Im ersten Buch ist also viel passiert, sodass der Einstieg bei der Fortsetzung „Die goldene Rache“ leider nicht allzu leicht gelingt. Fannys Schmerz aufgrund der verschwundenen Freundin lässt sich nur mitfühlen, wenn man die Lektüre des ersten Buchs voraussetzt. Und auch Fannys Beziehung zu Max weckt wenig Emotionen, da sie eher oberflächlich abgehandelt wird.
Es wird deutlich, dass René Anour das besondere Flair Wiens zu Beginn es 20. Jahrhunderts vermitteln möchte. So spielt der Maler Gustav Klimt und die Entstehung seines weltberühmten Gemäldes „Der Kuss“ ebenfalls eine Rolle in der Handlung. Leider wirkt dies rund um den Kriminalfall arg konstruiert, auch wenn die Gestaltung der Person Klimt ganz amüsant angelegt ist. Sehr gut gelungen sind wiederum die Szenen in der Pathologie, die interessant zu lesen sind und medizinisch in die Tiefe gehen: Wer über die Sektion eines Menschen und die Arbeitsweise in einer Pathologie mehr erfahren möchte, findet hier spannende Details. Dass der Autor selbst Mediziner ist, kommt dem Buch definitiv zugute. Auf klamaukige Szenen hätte allerdings besser verzichtet werden sollen. So wirft Fanny zum Beispiel während der Arbeit mit einem Organ nach ihrem arroganten Kollegen, und gibt vor, es sei ihr aus Versehen entglitten …
Der Kriminalfall enthält einige überraschende Wendungen, was das Personal angeht und kann durchaus auch spannende Szenen vorweisen. Allerdings wirken einige Verstrickungen auch nach der Auflösung unplausibel, die Handlung zu überladen. Für Krimifans bekommt das Drumherum des banalen Alltags zu viel Platz: Fannys Beziehung zu Max, ihre Sorge um die verschwundene Tilde, erotische Gefühle für den Widersacher … Und vieles davon kann die Leserschaft nicht berühren oder nachvollziehen, wenn man erst bei diesem Band der Reihe einsteigt.
Interessante Einsprengsel bezüglich des zeitlichen Kontextes liefert der Autor in Gestalt der Anspielungen auf die „Bosnische Annexionskrise“ sowie durch einen Einblick in das Leben der Jenischen – einer weitestgehend unbekannten Volksgruppe, „die wegen ihres fahrenden Lebensstils lange der Diskriminierung ausgesetzt war“ und deren Sprache „neben Deutsch auch Einflüsse des Jiddischen, des Romanes und des Französischen vereint.“((vgl. hierzu das Nachwort des Autors.))
Insgesamt ist der Roman teilweise spannend und dank seines Wiener Schmähs auch unterhaltsam, aber abgesehen von interessanten Einblicken in die Pathologie bleibt hier alles etwas an der Oberfläche. Kein Krimi mit bleibendem Eindruck, aber leichte Unterhaltung zum Feierabend oder für ein gemütliches Lesewochenende.
Extra Tipp: Wer sich für Kriminalfällen in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts interessiert, wird aktuell auch in der ZDF-Mediathek fündig: In “Vienna Blood” unterstützt der jüdische Arzt Dr. Max Liebermann (Matthew Beard) – ein Schüler von Sigmund Freud – den kauzigen Ermittler Oskar Rheinhardt (Juergen Maurer). Glamouröse Ausstattung bis ins kleines Detail – eine Empfehlung! Jeder Fall umfasst eine Spielfilmlänge von knapp 90 Minuten.
- Autor: René Anour
- Titel: Die Totenärztin: Goldene Rache
- Band der Reihe: 2 von 3
- Verlag: Rowohlt Taschenbuch
- Erschienen: 19. Oktober 2021
- Einband: Softcover
- Seiten: 400
- ISBN:978-3-499-00559-6
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Wertung: 9/15 dpt