Vielschichtiger Debütroman
Jay Porter arbeitet als Anwalt in eigener Kanzlei und kann sich mehr schlecht als recht über Wasser halten. Für den Geburtstag seiner hochschwangeren Frau Bernie reicht es gerade mal für eine Bootsfahrt auf dem Buffalo Bayou, wo die Beiden plötzlich Schreie einer Frau hören. Kurz darauf fallen zwei Schüsse, ein Körper landet im Fluss. Jay gelingt es, eine junge, weiße Frau zu retten und so bringen er und Bernie diese zur nächsten Polizeiwache. Diese wird aber Jay ganz sicher nicht betreten, denn als ehemaliger Aktivist der Black-Power-Bewegung und einer erfundenen Anklage, die ihn beinahe für lange Zeit ins Gefängnis gebracht hätte, ist sein Bedürfnis mit der Polizei zu sprechen gegen Null gesunken. Am nächsten Tag findet die Polizei einen mit zwei Schüssen getöteten Mann und Jay ahnt nicht nur, wen er gerettet hat, sondern auch, dass ihm dieser Fall noch Probleme bereiten wird.
Derweil bittet ihn sein Schwiegervater, Reverend Boykins, um Hilfe. Ein junger, schwarzer Hafenarbeiter wurde von weißen Gewerkschaftern verprügelt. Die schwarze Brotherhood der Longshoremen will streiken, die weißen Mitglieder der ILA, der International Longshoremen’s Association, wollen dies nicht. Auslöser sind neue Vorgaben, die zusätzliche Arbeit verlangen. Selbstredend unbezahlt. Während die Schwarzen die schweren Verladearbeiten am Hafen durchführen, sind ihre weißen Kollegen als besser bezahlte Vorarbeiter für Papierkram eingesetzt. Die Stimmung lädt sich zunehmend auf und wird gewalttätig, so dass Boykins von Jay verlangt, dass dieser mit der Bürgermeisterin Cynthia Maddox sprechen soll. Man will wegen des Übergriffs gegen den Jungen klagen, doch eine Unterstützung von Maddox gegen die weiße, untätige Polizei würde bedeuten, dass sie selber ihre Stadt nicht im Griff hat. Alsbald droht Jay noch Unheil von ganz anderer Seite, denn die millionenschwere Ölindustrie kann sich einen Streik nicht leisten. Und auch keine Ermittlungen in dem Mordfall am Bayou.
Kriminalgeschichte trifft auf schwarze Menschenrechtsbewegung
Die angeblich überwundene „Rassentrennung“ beziehungsweise der nach wie vor grassierende Rassismus in Amerika ist das zentrale Thema in den Romanen der großartigen Erzählerin Attica Locke, die ihren Vornamen einem Aufstand im Hochsicherheitsgefängnis von Attica in Upstate New York verdankt. Dies war 1974. Fünfunddreißig Jahre später schrieb Locke ihren ersten Roman „Black Water Rising“, der dank des Polar-Verlags nun auch in deutscher Ausgabe vorliegt. Zuvor wurden bereits die Romane „Bluebird, Bluebird“ und „Heaven, My Home“ um den Texas Ranger Darren Mathews (ebenfalls bei Polar) veröffentlicht. Auch hier trieft der Rassismus aus fast jeder Zeile.
In „Black Water Rising“ geht es um Öl, machtgierige und einflussreiche Konzerne sowie um einen kleinen Anwalt, der sich – trotz aller Widrigkeiten – der Wahrheit verpflichtet fühlt. Die Geschichte spielt im Jahr 1981 in Houston, Texas. Die Rassengesetze von einst sind längst aufgehoben, von Gleichheit aller Menschen ist hingegen nichts zu spüren. Der US-Präsident heißt Ronald Reagan.
Geschickt und eindringlich, immer am Protagonisten orientiert, verwebt Locke mehrere Erzählstränge. Der dubiose Mord, von dem Jay partout mehr wissen will, womit er sich und seine Frau in ungeahnte Schwierigkeiten bringt. Die anstehende Klage einer Prostituierten gegen ein führendes Mitglied der Hafenkommission. Aufgebrachte Hafenarbeiter, die zu allem entschlossen scheinen. Gewaltbereitschaft wohin man sieht. Dazu gesellen sich mehrere Rückblenden, in denen die Vorgeschichte zu Jays damaliger Anklage erzählt wird, die wiederum gleichzeitig Anlass für die Geschichte der Black Panther und Black Power ist. Bezüge zu Martin Luther King und Malcolm X dürfen nicht fehlen, zahlreiche einst aktive Organisationen werden vorgestellt.
„Black Water Rising“ ist nicht nur ein weiteres Buch im Kampf gegen Rassismus und für die Gleichheit aller Menschen, wovon Amerika (und andere Länder) noch heute weit entfernt ist. Es lebt auch von zahlreichen literarischen Anspielungen, die in einem Nachwort von Peter Henning beleuchtet werden. Doch bereits bei der Lektüre kann es dem Genrekundigen Leser nicht entgehen, dass Chandlers Philip Marlowe vermutlich Pate stand für die Figur des Jay Porter. Unerschrocken, einsamer Kämpfer für die Armen und Unterlegenen, keinem körperlichen wie verbalen Streit aus dem Weg gehend. Ein klassischer Privat Eye, der selber kaum über die Runden kommt, aber dennoch das große Geld ablehnt, wenn er dafür die Gerechtigkeit opfern muss. „Black Water Rising“ ist ein in vielerlei Hinsicht mitreißender Roman, der die Geschichte der Menschenrechtsbewegung im Amerika lebendig werden lässt.
- Autorin: Attica Locke
- Titel: Black Water Rising
- Originaltitel: Black Water Rising (2009). Aus dem Amerikanischen von Andrea Sumpf und Gabriele Werbeck
- Verlag: Polar
- Umfang: 456 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: November 2021
- ISBN: 978-3-948392-40-6
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Wertung: 13/15 dpt