Sunset (Spielfilm, DVD/Blu-ray)


Mittenrein ins Unzugängliche. László Nemes dringt mit seinem Zweitwerk „Sunset“ zum Kern der Vormonate des Ersten Weltkriegs vor, so wie er es vor drei Jahren mit seinem aufrüttelnden und zurecht mit seinem Oscar bedachten Debüt „Son Of Saul“ am Beispiel des Aufbegehrens im KZ Auschwitz eindrucksvoll durchexerzierte. Wieder folgt die Kamera unentwegt und eng einer rastlosen Hauptfigur und entdeckt durch ihren Blick die Zusammenhänge von zeitlichen, räumlichen und sozialen Konstellationen. Wertvolle Beobachtungen zum weiblichen (Nicht-)Präsenz in der Stadt oder zur instabilen politischen Lage (die heute ihren Widerhall finden) werden jedoch von einer weniger raffiniert auserzählten Handlung und der nun bereits bekannten Nemes-Handschrift in ein zu ambitioniertes Korsett gedrückt, das „Sunset“ in Richtung einer gutgemeinten Geschichtsstunde drängt.

Es ist durchaus nachzuvollziehen, warum László Nemes mit der Erfolgsformel seines Erstwerks nicht gleich wieder brechen wollte. Nicht nur wurde „Son Of Saul“ von der Kritik höchstlobend besprochen, der Gewinn des Fremdsprachen-Oscars war zudem absolut verdient und der erste Triumph eines ungarischen Filmemachers. Nach einem eigenen, wiedererkennbaren Stil forschen die meisten Kunstschaffenden und im Fall von Nemes kann dieser schlicht noch nicht ausreizt sein. Die enge Kameraführung auf dem Weg des jüdischen Häftlings durch die unaussprechlichen Gräuel im KZ Auschwitz war manch einer kritischen Stimme zu zwanghaft voyeuristisch vorgekommen (aus dem Lager würde ein Abenteuerpark gemacht), doch nicht nur Shoah-Regisseur Claude Lanzmann erkannte eine neue Art im Umgang mit dem Unbegreiflichen: Durch die Mittel der Fiktion an eine Wahrheit gelangen, die ansonsten unzugänglich bliebe.

„Sunset“ ist der Versuch, diese von Nemes entwickelte Kulturtechnik auf einen anderen, historischen Zusammenhang zu übertragen. Die mit 21 gerade volljährig gewordene Írisz Leiter (Juli Jakab) kehrt zu ihren Wurzeln in Budapest zurück und wirkt gleich wie ein Fremdkörper. Die schöne, aber auch kantige junge Frau sucht ein Hutgeschäft auf, wird mit einigen Modellen beraten, bis sie enthüllt, dass sie sich auf den ausgeschriebenen Job als Hutmacherin beworben habe. Im erzwungenen „Bewerbungsgespräch“ mit dem Besitzer des Ladens Oszkár Brill (Vlad Ivanov) wird sie abgewiesen, doch sie bringt vor, dass es der Laden ihrer Eltern gewesen sei. Sie starben, als Írisz noch klein war, was sie früh zur Waise machte.

Für die junge Frau ist es gleich nach dem Eintritt in das Erwachsensein ein Ausbruch aus dem Waisenhaus und ein ungestümer Einbruch in eine Welt, für die sie schon fast vergessen war. Einzig der Name des Hutgeschäfts erinnert zumindest an die Existenz der Familie Leiter und bietet der Tochter den Einstieg in die Suche nach der eigenen Identität. Ihre Beharrlichkeit wird zumindest in diesem Sinne belohnt, als dass sie schließlich von Brill auf Probe eingestellt wird. Dieser beschäftigt auffallend viele junge attraktive Frauen und auch in diese Reihe will Írisz nicht so ganz passen. Sie wirkt traurig, starrt, ist ungeschickt und passt eben nicht so sehr in die Schönheitsideale, denen ihre Kolleginnen um Einiges näherkommen.

Der Drang nach Aufklärung ihrer nebulösen persönlichen Verhältnisse wird von der schlichten Tatsache eingepfercht, dass sie eine Frau ist. Sie passt nicht, entspricht nicht den Erwartungen und fällt daher noch eher auf, als es als Frau im öffentlichen Raum nicht ohnehin schon tut. Im Budapest des Kaiserreichs Österreich-Ungarn, der kleinen eifersüchtigen Schwester von Wien, wird sie als Suchende zu einer, die den männlich geprägten Blick der Stadt stört. Als sich ihre persönliche Suche zwangsweise mit anderen Schicksalen (eine verschwundene Frau) sowie mit den politischen Verhältnissen der Zeit vermischt, kann sie daher keine Detektivin sein, sie wird zur Schnüfflerin, die einzig durch den Schutz von Männern oder einer männlichen Verkleidung brenzlichen Situationen entrinnen kann.

Die Kamera rückt nicht von ihrer Seite und manövriert sich mit ihr durch durchchoreografierte Tanz-, Jahrmarkt- und Krimiszenerien. Das ist ambitioniert und sehenswert umgesetzt, doch der Blick erschöpft sich schnell an ihnen. Das liegt einerseits an der Übertragung der Machart aus „Son Of Saul“, das Prinzip ist also schon bekannt, andererseits aber auch an der bereits in „Sunset“ zu entschlüsselnden Formel: Gefühlt jede 15 Minuten taucht Írisz in eine solche große Kulisse ein. Nemes beansprucht seine Erkennungszeichen über Gebühr (vor dem Dritt-, dem „make it or break it“-Werk entscheidet er sich schon für „make it“), wodurch trotz eines gewissen Sogs, den der Film entwickelt, die technische Seite hervortritt, so wie die Hauptfigur im Gewühl von Budapest.

Außerdem haben sich Nemes und seine Co-Autorinnen einen komplexen Mystery-/Krimi-Plot erdacht, der zur psychologischen Zeichnung von Írisz zahlreiche Leerstellen lassen muss, dem die Zuschauenden dadurch aber nur mit Mühe folgen können. Das spielt mit dem gedrosselten, Bedeutungsschwangerschaft implizieren wollenden Tempo und den wenig raffinierten Dialogen zusammen, die häufig reichlich Banales verhandeln, was das Visuelle teilweise schon längst eingebracht hat. Dem kann entgegengehalten werden, dass es „Sunset“ genau darauf anlegt: So wenig, wie sich auch Írisz einen Reim darauf machen kann, wer sie denn nun tatsächlich ist, so nebulös bleiben auch die Verhältnisse der Vorkriegszeit. Das schafft einen angenehm bodenständigen Gegenpol zu denjenigen Werken, die selbstbewusst kausale Erklärungsmuster anbieten, die der Komplexität und Verworrenheit nicht gerecht werden.

Nemes verquickt Persönliches und Soziales durch die Figur des Bruders, von dessen Existenz Írisz berichtet wird. Kalman bleibt jedoch ein Geist, der mal als humanistischer Held, mal als anarchistischer Attentäter mythologisiert wird. Das passt zu einer Zeit, in der um die Vormachtstellung gerungen wird und Wahrheit zur Glaubensfrage wird. Eine erschreckend offen angesprochene Parallele zur heutigen Zeit der Fake News. Spannung verliert der Film aber leider im Gegenzug dadurch, dass sich Írisz nie in wirklich überzeugend wirkender Gefahr befindet. Immer ist sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort, genauso häufig wird lässt man sie gewähren und ist ihr ein Ausweg vergönnt, was sie zum Fremdkörper und gleichsam selbst zum Geist werden lässt, der als bloßes Vehikel für die Zuschauenden dient, nun in dieser Szene sein zu dürfen.

Letzteres gehört aber auch zur Figur, der versagt wird, zu sein. Erinnerung, Vergessen, Auslöschung, diese Themen hat Nemes weitaus eindrucksvoller aus „Son of Saul“ transferieren können und sie in einen neuen Zeitkontext eingebaut. Es geht um den Kampf der jungen Frau gegen das Vergessen ihrer Selbst, was in der patriarchal organisierten Machtstruktur Abwehrreaktionen hervorruft, auch wegen der Fragen nach Erbe, Erbschuld und Tradition und die Ausmerzung der Ehre durch Lügen, Geheimnisse und Verleugnungen. „Sunset“ greift den Zeitgeist der Vorkriegszeit auf, die dunklen Geheimnisse und Intrigen in der k.u.k.-Monarchie, den Wunsch nach Aufstieg in die High Society, die Anschläge und Revolutionsversuche gegen die Aristokratie. Doch da sich das Persönliche und das Politische nicht so reibungslos verbinden, wie es sich Nemes ausgerechnet hatte, tritt auch hier die Technik hervor und rückt den Film in die Richtung einer Geschichtsstunde, eine zugegebenermaßen gut gemachte, aber eine mit Patina, die sich auch nicht ganz von den Kritiken am heutigen Nostalgie-Wahn freimachen kann.

Fazit: Mit „Sunset“ beruft sich Regisseur László Nemes auf die Stärken, die ihn gleich mit seinem Debütwerk „Son Of Saul“ zu Oscar-Ehren brachte, doch die technisch beeindruckenden Aspekte verstellen oftmals den Blick auf die inhaltliche Ebene. Scheint diese hinter der eng geführten Kamera und den durchchoreografierten Szenen doch mal durch, wirkt diese selten raffiniert und häufig langatmig. Interessante Aspekte zum erzwungenen Vergessen und der Rolle der Frau im öffentlichen Raum werden etwas behelfsmäßig von der Rastlosigkeit der Hauptfigur zusammengehalten, die sich immer für den Fortgang der Geschichte zur richtigen Zeit am richtigen Ort befindet und die man trotz der Abwehrreaktionen gewähren lässt. Dem Plot ist aufgrund der zahlreichen, intendierten Leerstellen nur mühevoll zu folgen, aber darin gelingt es Nemes auch, an einen eigentlich unzugänglichen Ort der Geschichte vorzudringen und eine Stimmung des Nebulösen einzufangen, in denen durch Intrigen, Lügen und Falschinformation Wahrheit zu einer Sache des Glaubens und der Strategie verkommt. „Fake News“ lassen grüßen!

Cover © MFA+; Szenebilder © Laokoon Filmgroup – Playtime Production 2018

  • Titel: Sunset
  • Originaltitel: Napszállta
  • Produktionsland und -jahr: HUN, FRA 2018
  • Genre:
    Drama
    Historienfilm
  • Erschienen: 17.10.2019
  • Label: MFA+
  • Spielzeit:
    ca. 142 Minuten auf 1 DVD
    ca. 136 Minuten auf 1 Blu-Ray
  • Darsteller:
    u.a.
    Juli Jakab
    Vlad Ivanov
    Susanne Wuest
    Evelin Dobos
  • Regie: László Nemes
  • Drehbuch:
    László Nemes
    Clara Royer
    Matthieu Taponier
  • Kamera: Mátyás Erdély
  • Schnitt: Matthieu Taponier
  • Musik: László Melis
  • Extras:
    Trailer, Trailershow
  • Technische Details (DVD)
    Video:
    16:9 (1.85:1)
    Sprachen/Ton
    :
    D, HUN
    Untertitel:
    D
  • Technische Details (Blu-Ray)
    Video: 16:9 (1.85:1) (1080p/HD)
    Sprachen/Ton
    :
    D, HUN
    Untertitel:
    D
  • FSK: 12
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 9/15 dpt


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